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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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vermisste es, das Rasiermesser auf der Haut zu spüren. Auch sein Aussehen mit Bart gefiel ihm nicht: So hatte er ein Verbrechergesicht. Die Wärter machten Bemerkungen darüber, dass er nun ein neues Versteck habe. Er zupfte weiterhin Kokosfasern und las Oliver Goldsmith. Er hatte noch vier Jahre Haft vor sich.
    Und dann wurde plötzlich alles verworren. Er wurde zum Photographieren geführt, von vorn und im Profil. Dann wurde er zum Rasieren geschickt. Der Barbier sagte, er könne sich glücklich schätzen, dass er nicht in Strangeways sei, wo man ihm für diese Dienstleistung achtzehn Pence berechnen würde. Als er in seine Zelle zurückkam, sollte er seine spärliche Habe zusammenpacken und sich zum Abtransport bereithalten. Er wurde zum Bahnhof gefahren und mit einer Begleitperson in einen Zug gesetzt. Er konnte sich kaum überwinden, auf die Landschaft hinauszuschauen, die ihn durch ihr bloßes Dasein wie auch mit jedem Pferd und jeder Kuh zu verspotten schien. Er begriff, dass ein Mensch verrückt werden konnte, wenn ihm ganz gewöhnliche Dinge fehlten.
    Als der Zug in London ankam, wurde er in eine Droschke gesetzt und nach Pentonville gefahren. Dort teilte man ihm mit, man bereite seine Entlassung vor. Er verbrachte einen Tag allein in seiner Zelle eingeschlossen – im Rückblick der elendste Tag seiner gesamten drei Jahre im Gefängnis. Er wusste, er hätte glücklich sein sollen; stattdessen war er über seine Freilassung ebenso verwirrt wie zuvor über seine Festnahme. Zwei Kriminalbeamte kamen und statteten ihn mit Papieren aus; man befahl ihm, sich bei Scotland Yard zu melden, wo ihm weitere Weisungen erteilt würden.
    Am Morgen des 19 . Oktober 1906 verließ George Edalji um zehn Uhr dreißig Pentonville in einer Droschke zusammen mit einem Juden, der gleichfalls entlassen wurde. Er fragte nicht danach, ob das ein richtiger Jude oder nur ein Gefängnisjude war. Die Droschke setzte seinen Mitreisenden bei der Jewish Prisoners’ Aid Society ab und fuhr ihn weiter zur Church Army’s Aid Society . Häftlingen, die einer solchen Gesellschaft beigetreten waren, stand bei der Entlassung eine Beihilfe in doppelter Höhe zu. George wurden £ 2 9 s. 10 d. ausgezahlt. Dann brachten ihn Mitarbeiter der Gesellschaft zu Scotland Yard, wo ihm die Auflagen seiner bedingten Entlassung erläutert wurden. Er musste seine Aufenthaltsadresse angeben; er musste sich einmal im Monat bei Scotland Yard melden; und er musste es dort jeweils im Voraus bekanntgeben, wenn er beabsichtigte, London zu verlassen.
    Eine Zeitung hatte einen Reporter nach Pentonville geschickt, der George Edalji beim Verlassen des Gefängnisses knipsen sollte. Aus Versehen photographierte er einen Häftling, der eine halbe Stunde vor George entlassen worden war, und so druckte die Zeitung ein Bild des falschen Mannes ab.
    Von Scotland Yard wurde er zu seinen Eltern gefahren.
    Er war frei.

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Arthur
    Und dann begegnet er Jean.
    In wenigen Monaten wird er seinen achtunddreißigsten Geburtstag feiern. Er lässt sich in diesem Jahr von Sidney Paget malen, hoch aufgerichtet in einem Polstersessel sitzend, den Gehrock halb aufgeknöpft, die Uhrketten deutlich sichtbar; in seiner Linken hält er ein Notizbuch, in der Rechten einen silbernen Drehbleistift. Sein Haar wird nun an den Schläfen schütter, doch die Pracht des Schnurrbarts macht mühelos wett, was dort verloren ging: Er beherrscht das ganze Gesicht über der Oberlippe und zieht sich dann weiter bis zu den pomadisierten, zahnstocherspitzen Enden, die über die Ohrläppchen hinausweisen. Dieser Schnurrbart verleiht Arthur das achtunggebietende Aussehen eines militärischen Anklägers, der durch das gevierte Wappen in der oberen Ecke des Porträts zusätzliche Autorität gewinnt.
    Arthur gibt gern zu, dass seine Kenntnis der Frauen eher die eines Gentleman als die eines Schwerenöters ist. Da waren gewisse stürmische Tändeleien in seiner frühen Jugend – ja, bei einer Episode spielten gar Fliegende Fische eine Rolle. Da war Elmore Weldon, die – falls ein Gentleman dergleichen wahrnehmen darf – an die siebzig Kilo wog. Da ist Touie, die ihm im Laufe der Jahre eine kameradschaftliche Schwester und dann auf einmal eine pflegebedürftige Schwester wurde. Da sind natürlich auch seine wirklichen Schwestern. Da sind die Statistiken über Prostitution, die er in seinem Club liest. Da sind Geschichten, die man sich beim Portwein erzählt und gegen die er bisweilen die Ohren verschließt,

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