Arthur & George
Geschichten, die sich zum Beispiel im Séparée eines verschwiegenen Restaurants abspielen. Da sind die gynäkologischen Fälle, die er gesehen hat, die Entbindungen, bei denen er Hilfe leistete, und die Krankheiten von Seeleuten und anderen Männern von niederer Moral in Portsmouth. Seine Kenntnisse des sexuellen Akts sind vielfältig, auch wenn sie sich mehr auf dessen verhängnisvolle Folgen beziehen als auf die freudvollen Präliminarien und Vorgänge.
Seine Mutter ist die einzige Frau, deren Herrschaft er sich bereitwillig unterwirft. Für andere Angehörige des schönen Geschlechts war er bislang mal großer Bruder, mal Ersatzvater, dominanter Ehemann, verordnender Arzt, großzügiger Aussteller von Blankoschecks und Weihnachtsmann. Mit der Trennung und Unterscheidung der Geschlechter, wie sie die Gesellschaft in ihrer Weisheit über die Jahrhunderte herausgebildet hat, ist er vollauf zufrieden. Er ist ein entschiedener Gegner des Frauenwahlrechts: Wenn ein Mann von der Arbeit nach Hause kommt, will er am Kamin keiner Politikerin gegenübersitzen. Da Arthur die Frauen nur wenig kennt, kann er sie desto besser idealisieren. So sollte es seiner Meinung nach sein.
Daher trifft ihn die Begegnung mit Jean wie ein Schock. Es ist nun lange her, dass er eine junge Frau so ansah, wie junge Männer das gemeinhin tun. Frauen – junge Frauen – sollten seiner Ansicht nach unfertig sein; sie sind fügsam und anpassungsfähig und warten nur darauf, sich nach dem Gepräge des Mannes, den sie heiraten, formen zu lassen. Sie bleiben im Verborgenen; sie warten und beobachten, sie halten bei schicklichen gesellschaftlichen Anlässen Hof (was nie bis zur Koketterie gehen darf), bis der Mann sein Interesse und dann sein größeres Interesse und dann sein ganz besonderes Interesse zu erkennen gibt, und dann gehen sie auch schon zu zweit allein, und die Familien haben sich kennengelernt, und schließlich hält er um ihre Hand an, und manchmal lässt sie ihn, vielleicht um ein letztes Mal Zurückhaltung zu üben, auf ihre Antwort warten. So hat sich das alles entwickelt, und die gesellschaftliche Evolution folgt ihren eigenen Gesetzen und Notwendigkeiten genau wie die biologische Evolution. Wenn es nicht einen sehr guten Grund dafür gäbe, dass es so ist, dann wäre es nicht so.
Als er Jean vorgestellt wird – bei einem Nachmittagstee im Hause eines bedeutenden Londoner Schotten, einer Veranstaltung der Art, die er normalerweise meidet –, sieht er sofort, dass sie eine eindrucksvolle junge Frau ist. Aus langer Erfahrung weiß er, was er zu erwarten hat: Die eindrucksvolle junge Frau wird ihn fragen, wann er wieder eine Sherlock-Holmes-Geschichte schreibt und ob Holmes in den Reichenbachfällen wirklich gestorben ist, und vielleicht sollte der beratende Detektiv doch lieber heiraten, und wie ist er überhaupt auf so eine Idee gekommen? Und manchmal antwortet er mit der Müdigkeit eines Mannes, der fünf Mäntel trägt, und manchmal bringt er ein schwaches Lächeln zustande und sagt: »Ihre Frage, meine Dame, zeigt mir wieder einmal, wie klug es von mir war, ihn damals in den Wasserfall zu stürzen.«
Jean aber tut nichts dergleichen. Sie bekommt keinen freudigen Schreck, als sie seinen Namen hört, und bekennt sich nicht verschämt als treue Leserin. Sie fragt ihn, ob er die Ausstellung der Photographien von Dr. Nansens Reise in den hohen Norden gesehen hat.
»Noch nicht. Aber ich war vorigen Monat in der Albert Hall, als er einen Vortrag vor der Royal Geographic Society gehalten hat und vom Prinzen von Wales mit einer Medaille ausgezeichnet wurde.«
»Ich auch«, antwortet sie. Das kommt unerwartet.
Nun erzählt er ihr, er habe sich, nachdem er einige Jahre zuvor Nansens Bericht über dessen Durchquerung Norwegens auf Skiern gelesen habe, gleichfalls ein Paar Skier zugelegt; er habe mit den Gebrüdern Branger von Davos aus Skitouren im Hochgebirge unternommen, und Tobias Branger habe ihn im Hotel als »Sportsmann« eingetragen. Dann setzt er zu einer Geschichte an, die er häufig als Anhang zu dieser erzählt und die davon handelt, wie er oben an einem Schneehang seine Skier verlor und ohne sie herunterkommen musste und wie das den Hosenboden seiner Tweed-Knickerbocker derart strapazierte, dass … und das ist wirklich eine seiner besten Geschichten, obwohl er unter den gegebenen Umständen vielleicht den Schluss, dass er nämlich für den Rest des Tages froh war, wenn er mit dem Hosenboden an der Wand stehen konnte, ein
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