Arthur & George
wirkte ganz abgezehrt, und seine Mutter brachte es nicht übers Herz, sich an dem Ort umzusehen, wo ihr Sohn eingekerkert war. George hatte Mühe, ihnen gegenüber den rechten Ton anzuschlagen: Wenn er fröhlich wäre, würden sie das für Heuchelei halten; wenn er bedrückt wäre, würde sie das noch mehr bedrücken. Und so nahm er schließlich eine neutrale Haltung ein, hilfsbereit, aber ausdruckslos, wie ein Beamter am Fahrkartenschalter.
Maud wurde anfangs für zu sensibel gehalten, um solche Besuche zu machen; doch nach einiger Zeit erschien sie einmal anstelle ihrer Mutter. Sie kam kaum dazu, etwas zu sagen, doch wann immer George zu ihr hinübersah, begegnete er jenem ruhigen, eindringlichen Blick, den er aus dem Gerichtssaal in Stafford in Erinnerung hatte. Es war, als wollte sie ihm Kraft geben, ohne das Medium von Wort oder Geste etwas aus ihrer Seele in die seine übertragen. Später ertappte er sich bei der Überlegung, ob er, ob sie alle sich in Maud und ihrer vermeintlichen Zartheit getäuscht hatten.
Der Pfarrer bemerkte nichts davon. Er war zu sehr damit beschäftigt, George zu berichten, dass der unermüdliche Mr Yelverton in Anbetracht des Regierungswechsels – von dem George kaum etwas wusste – seine Kampagne wieder aufnehmen wolle. Mr Voules plane eine neue Artikelserie in der Truth , und der Pfarrer selbst beabsichtige, eine eigene Broschüre über den Fall herauszugeben. George tat, als schöpfte er neuen Mut, doch insgeheim hielt er den Enthusiasmus seines Vaters für töricht. Auch wenn man noch so viele Unterschriften sammelte, hatte sich am Kern seines Falls nichts geändert – warum also sollte sich die Haltung der Behörden dazu ändern? Als Jurist fand er das einleuchtend.
Außerdem wusste er, dass das Innenministerium mit Eingaben aus allen Gefängnissen des Landes überschwemmt wurde. Jahr für Jahr wurden viertausend Memoranden eingereicht, und weitere tausend kamen von anderer Stelle im Namen von Gefangenen. Doch das Innenministerium war weder befugt noch in der Lage, ein Verfahren wieder aufzunehmen; es konnte weder Zeugen vernehmen noch Anwälte anhören. Es konnte lediglich die Unterlagen sichten und die Krone entsprechend beraten. Das bedeutete, dass eine Begnadigung eine statistische Seltenheit war. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn es ein Berufungsgericht gegeben hätte, das eine aktivere Rolle bei der Aufhebung ungerechter Urteile hätte spielen können. Doch nach Lage der Dinge hielt George den Glauben des Pfarrers, wiederholte Unschuldserklärungen würden zusammen mit der Macht des Gebets die Freilassung seines Sohns herbeiführen, für naiv.
Zu seinem Kummer musste er sich eingestehen, dass ihm die Besuche des Vaters keine Hilfe waren. Sie störten die Ruhe und Ordnung seines Lebens, und ohne Ruhe und Ordnung würde er seine Strafe nicht überstehen. Manche Häftlinge zählten die Tage bis zu ihrer künftigen Freilassung; George konnte das Gefängnisleben nur ertragen, wenn er so tat, als sei es das einzige Leben, das er hatte oder je haben würde. Seine Eltern wie auch das hoffnungsvolle Vertrauen seines Vaters auf Mr Yelverton zerstörten ihm diese Illusion. Wenn Maud ihn allein hätte besuchen dürfen, hätte sie ihm vielleicht Kraft einflößen können, während seine Eltern ihm Angst und Scham einflößten. Doch er wusste, das würde niemals erlaubt.
Die Durchsuchungen, die Abreibungen und die Trockenbäder gingen weiter. Seine Geschichtskenntnisse erweiterten sich in ungeahnte Dimensionen, er hatte sämtliche Klassiker ausgelesen und war nun schon bei den weniger bedeutenden Autoren. Er hatte auch ganze Jahrgänge des Cornhill Magazine und des Strand durchgearbeitet. Er begann sich zu sorgen, dass die Vorräte der Bibliothek bald erschöpft sein könnten.
Eines Morgens wurde er in das Büro des Gefängnisgeistlichen geführt, von vorn und im Profil photographiert und dann angewiesen, sich einen Bart wachsen zu lassen. Man erklärte ihm, nach Ablauf von drei Monaten werde er nochmals photographiert werden. Den Zweck dieser Aufnahmen konnte er sich selbst zusammenreimen: Sie würden der Polizei zur Verfügung stehen, falls es künftig wieder Anlass gäbe, nach ihm zu fahnden.
Er ließ sich nur ungern einen Bart stehen. Er hatte einen Schnurrbart getragen, seit die Natur es erlaubte, aber in Lewes hatte er ihn abrasieren müssen. Nun hatte er keine Freude an den Stoppeln, die sich von Tag zu Tag über die Wangen und unter dem Kinn ausbreiteten; er
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