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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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im Augenblick steht – und er weiß auch nicht, was diese nächste Stufe sein könnte, denn die, auf der er im Augenblick steht, scheint ihm gewissermaßen endgültig zu sein. Er kann an nichts anderes denken als an Schwierigkeiten, Verbote, Gründe, sich nie wieder zu sehen, außer vielleicht nach Jahrzehnten, im Vorübergehen, wenn sie beide alt und grau geworden sind und über jenen unvergesslichen Moment auf einem fremden sonnigen Rasen scherzen können. Sie können sich unmöglich in der Öffentlichkeit treffen, ihres guten Rufs und seiner Berühmtheit wegen; und sie können sich unmöglich privat treffen, ihres guten Rufs wegen und … wegen allem, was sein Leben ausmacht. Da steht er nun, ein Mann, der auf die Vierzig zugeht, ein Mann, der sich in seinem Leben sicher eingerichtet und in der Welt Ruhm erworben hat, und ist wieder ein kleiner Schuljunge. Er hat das Gefühl, als hätte er die schönste Liebesrede von Shakespeare auswendig gelernt, und nun, da er sie vortragen soll, ist sein Mund trocken und sein Gedächtnis leer. Außerdem hat er das Gefühl, er hätte sich den Hosenboden seiner Tweed-Knickerbocker aufgerissen und müsste sofort eine Wand finden, um den Rücken daran zu lehnen.
    Doch ohne dass er ihre Fragen und seine Antworten recht wahrnimmt, wird es irgendwie arrangiert. Und es ist kein heimliches Stelldichein oder der Beginn einer heimlichen Liebschaft, es ist lediglich das nächste Mal, dass sie sich sehen werden, und in den fünf Tagen des Wartens ist er unfähig zu arbeiten und kann kaum denken, und selbst wenn er zwei Runden Golf an einem Tag spielt, taucht in den Sekunden zwischen der Ansprache des Balls und dem Niederbringen des Schlägers ihr Gesicht vor ihm auf, und was dann folgt, sind nichts als Hooks und Slices und eine Gefährdung der Umwelt. Als er den Ball aus einem Sandloch direkt ins andere schlägt, erinnert er sich plötzlich, wie er beim Hotel Mena House Golf spielte und das Gefühl hatte, in einem ewigen Bunker zu stecken. Nun weiß er nicht, ob das noch immer stimmt, ja mehr denn je stimmt, weil der Sand noch tiefer und sein Ball unsichtbar versenkt ist, oder ob er sich jetzt irgendwie und für alle Zeiten auf dem Grün befindet.
    Es ist kein heimliches Stelldichein, obwohl er zu seinem eigenen Erstaunen an der Straßenecke aus der Droschke steigt. Es ist kein heimliches Stelldichein, obwohl ihm eine Frau unbestimmten Alters und unbestimmter Klasse die Tür öffnet und dann verschwindet. Es ist kein heimliches Stelldichein, obwohl sie endlich zu zweit allein sind und auf einem mit Satinbrokatelle bezogenen Sofa sitzen. Es ist kein heimliches Stelldichein, weil er sich einredet, es sei keines.
    Er nimmt ihre Hand und sieht sie an. Ihr Blick ist weder schüchtern noch keck, sondern offen und beständig. Sie lächelt nicht. Er weiß, einer von beiden muss etwas sagen, doch er scheint seine alltägliche Vertrautheit mit Worten verloren zu haben. Das macht aber nichts. Und dann lächelt sie halb und sagt: »Ich konnte nicht auf den Schnee warten.«
    »Ich werde Ihnen an jedem Jahrestag unserer ersten Begegnung Schneeglöckchen schenken.«
    »Am fünfzehnten März«, sagt sie.
    »Ich weiß. Ich weiß es, weil es sich auf ewig in mein Herz eingeprägt hat. Wenn man mich aufschneidet, wird man dieses Datum lesen können.«
    Wieder tritt Schweigen ein. Er hockt auf der Sofakante und will sich auf ihre Worte, ihr Gesicht, das Datum und den Gedanken an Schneeglöckchen konzentrieren; doch all das wird vertrieben durch das Bewusstsein, dass er den ungeheuerlichsten Ständer seines ganzen Lebens hat. Das ist nicht die schickliche Schwellung eines Kavaliers mit reinem Herzen, es ist eine pochende und unvermeidliche Erscheinung, etwas Rowdyhaftes, etwas von der Gasse Hereingekommenes, etwas, das dem Wort Ständer entspricht, das er selbst nie in den Mund genommen hat, das sich jetzt aber in seinen Kopf drängt. Er kann nur noch mit Erleichterung denken, dass seine Hose locker geschnitten ist. Er bewegt sich ein wenig, um die Beengtheit erträglicher zu machen, und rückt dabei unabsichtlich etwas näher an sie heran. Sie ist ein Engel, denkt er, ihr Blick so rein, ihr Teint so hell, doch sie nimmt seine Bewegung als Zeichen, dass er sie küssen will, und hebt ihm vertrauensvoll ihr Gesicht entgegen, und als Gentleman kann er sie nicht kränken, und als Mann kann er nicht anders, als sie zu küssen. Da er kein Frauenheld und kein Verführer ist, sondern ein stämmiger, ehrenwerter Mann

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