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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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in den frühen mittleren Jahren, der sich unbeholfen über ein Sofa hinwegbeugt, versucht er, an nichts als Liebe und Ritterlichkeit zu denken, als sich ihre Lippen seinem Schnurrbart nähern und ungeschickt den Mund darunter suchen; noch immer die Hand haltend, die er seit seiner Ankunft hier hält, aber nun schon zerdrückt, wird ihm bewusst, dass im Innern seiner Hose ein gewaltiger und heftiger Erguss stattfindet. Und sein Aufstöhnen wird von Miss Jean Leckie ganz sicher missdeutet, genau wie sein jähes Aufbäumen und Zurückweichen, als habe ihn ein Spieß zwischen die Schulterblätter getroffen.
    Ein Bild kommt Arthur in den Sinn, ein Bild aus längst vergangener Zeit. Die Nächte in Stonyhurst, in denen ein Jesuit leise durch die Schlafsäle patrouillierte, um Abscheulichkeiten unter den Jungen zu verhindern. Es hat gewirkt. Und was er jetzt und für alle von ihm absehbare Zeiten braucht, ist ein ganz persönlicher patrouillierender Jesuit. Was in jenem Raum geschah, darf nie wieder geschehen. Als Arzt mag er einen solchen Moment der Schwäche erklärlich finden; als englischer Gentleman findet er ihn schändlich und verstörend. Er weiß nicht, wen er am meisten verraten hat: Jean, Touie oder sich selbst. In gewisser Weise wohl sie alle drei. Und es darf nie wieder geschehen.
    Es kam alles so plötzlich, dass er die Herrschaft über sich selbst verlor, und auch die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit hat ihn erschüttert. In einer Ritterromanze ist der Gegenstand der Liebe unerreichbar – der Ritter liebt zum Beispiel die Ehefrau seines Herrn und vollbringt dann in ihrem Namen kühne Taten; seine Tapferkeit ist ebenso groß wie seine Reinheit. Jean aber ist nicht ganz unerreichbar, und Arthur ist kein namenloser Kavalier oder ungebundener Ritter. Nein, er ist ein verheirateter Mann, dem seit drei Jahren durch ärztliche Anordnung Keuschheit auferlegt ist. Er wiegt fast – nein, mehr als – zwei Zentner, ist gesund und voller Energie; und gestern hat er sich in seine Unterwäsche ergossen.
    Doch da sich das Dilemma nun in voller Klarheit und Entsetzlichkeit zeigt, kann Arthur sich ihm stellen. Sein Gehirn beschäftigt sich mit den praktischen Seiten der Liebe, wie es sich einst mit den praktischen Seiten der Krankheit beschäftigt hat. Er definiert das Problem – das Problem! die schmerzliche, zerstörende Freude und Pein! – folgendermaßen: Es ist ihm unmöglich, Jean nicht zu lieben; und ihr, ihn nicht zu lieben. Es ist ihm unmöglich, sich von Touie scheiden zu lassen, der Mutter seiner Kinder, der er noch immer Zärtlichkeit und Respekt entgegenbringt; außerdem würde nur ein Schuft eine kranke Frau im Stich lassen. Und schließlich ist es unmöglich, die Sache zu einer heimlichen Liebschaft und Jean zu seiner Geliebten zu machen. Alle drei Beteiligten haben ihre Ehre, selbst wenn Touie nicht weiß, dass die ihre in absentia bedacht wird. Denn das ist eine grundlegende Bedingung: Touie darf nichts erfahren.
    Beim nächsten Treffen mit Jean nimmt er die Sache in die Hand. Das muss er tun: Er ist der Mann, er ist älter; sie ist eine junge, vielleicht etwas impulsive Frau, deren Ruf nicht befleckt werden darf. Zuerst wirkt sie verschreckt, als wollte er sie fortschicken; doch als deutlich wird, dass er lediglich die Bedingungen ihres Verhältnisses regelt, entspannt sie sich und scheint mitunter fast nicht hinzuhören. Sie wird wieder ängstlich, als er hervorhebt, wie vorsichtig sie sein müssen.
    »Aber wir dürfen uns küssen?«, fragt sie, wie um sich der Bedingungen eines Vertrags zu vergewissern, den sie mit verbundenen Augen fröhlich unterschrieben hat.
    Ihr Tonfall lässt sein Herz schmelzen und sein Gehirn trübe werden. Zur Besiegelung des Vertrags küssen sie sich. Sie gibt ihm gern flüchtige, kleine Küsse, wie ein Vögelchen und mit offenen Augen; er hat es lieber, wenn die Lippen bei geschlossenen Augen lange aneinanderhaften. Er kann nicht glauben, dass er wieder jemanden küsst, schon gar nicht sie. Er versucht, sich jeden Gedanken daran zu verbieten, wie anders das ist, als Touie zu küssen. Doch nach einer Weile ist die Verwirrung wieder da, und er zieht sich zurück.
    Sie werden sich treffen; sie werden für eine jeweils begrenzte Zeit zu zweit allein sein; sie dürfen sich küssen; sie dürfen sich nicht hinreißen lassen. Sie sind in einer äußerst gefährlichen Lage. Doch wieder scheint sie nur halb hinzuhören.
    »Es wird Zeit, dass ich zu Hause ausziehe«, sagt sie.

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