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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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warten schweigend. Um drei Uhr morgens stirbt Touie, während sie Arthurs Hand hält. Sie ist neunundvierzig Jahre alt, Arthur siebenundvierzig. Nach ihrem Tod bleibt er lange in ihrem Zimmer; er steht vor ihrem Leichnam und sagt sich, er habe sein Bestes getan. Er weiß aber auch, dass diese abgeworfene Hülle, die dort auf dem Bett aufgebahrt ist, nicht alles ist, was von Touie bleibt. Dieses weiße und wächserne Ding ist nur etwas, das sie zurückgelassen hat.
    In den folgenden Tagen verspürt Arthur unterhalb des Fiebertaumels der Trauer das starke Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu haben. Touie wird als Lady Doyle in Grayshott unter einem Marmorkreuz begraben. Kondolenzbriefe kommen aus allen gesellschaftlichen Kreisen, vom König und von Hausmädchen, von Schriftstellerkollegen und Lesern aus Nah und Fern, aus Londoner Clubs und entlegenen Vorposten des Empire. Anfangs fühlt Arthur sich durch diese Beileidsbekundungen geehrt; er ist erst gerührt und dann, als sie andauern, zunehmend verstört. Was hat er eigentlich getan, um dieses tief empfundene Mitgefühl, geschweige denn die dahinterstehenden Vermutungen zu verdienen?
    Bei diesem Ausdruck wahren Gefühls kommt er sich vor wie ein Heuchler. Touie war die sanftmütigste Gefährtin, die ein Mann nur haben kann. Er erinnert sich, wie er ihr auf der Clarence Esplanade die militärischen Trophäen zeigte; er sieht sie mit einem Schiffszwieback im Mund im Victualling Yard stehen; er tanzt mit ihr um den Küchentisch herum, als sie mit Mary hochschwanger ist; er entführt sie in das eisige Wien; er legt ihr in Davos eine Decke um und winkt einer liegenden Gestalt auf der Veranda eines ägyptischen Hotels zu, bevor er einen Golfball über die Sandflächen zur nächstgelegenen Pyramide schlägt. Er erinnert sich an ihr Lächeln und an ihre Güte; doch er erinnert sich auch, dass es Jahre her ist, seit er die Hand aufs Herz hat legen und schwören können, dass er sie liebt. Nicht erst seit Jean in sein Leben getreten ist, sondern schon vorher. Er hat sie geliebt, so gut es nur ging in Anbetracht dessen, dass er sie nicht liebte.
    Er weiß, er sollte die nächsten Tage und Wochen mit seinen Kindern verbringen, wie es sich für einen trauernden Vater gehört. Kingsley ist dreizehn und Mary siebzehn Jahre alt: eine Feststellung, die ihn nun überrascht. Ein Teil von ihm hat die Zeit an dem Tag, in dem Jahr eingefroren, als er Jean kennenlernte – an dem Tag, als sein Herz ganz und gar zum Leben erweckt und zugleich in Tiefschlaf versetzt wurde. Er muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass seine Kinder bald erwachsen sein werden.
    Falls es dafür noch einer Bestätigung bedurfte, liefert Mary sie ihm rasch. Wenige Tage nach der Beerdigung sagt sie beim Nachmittagstee in beängstigend erwachsenem Ton zu ihm: »Vater, als Mutter im Sterben lag, hat sie gesagt, du würdest wieder heiraten.«
    Arthur erstickt fast an seinem Kuchen. Er spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt und die Brust eng wird; vielleicht ist das der Anfall, den er so halb erwartet hat. »Mein Gott, das hat sie gesagt?« Ihm gegenüber hat Touie das Thema jedenfalls nie angesprochen.
    »Ja. Nein, nicht direkt. Sie hat gesagt …«, Mary hält inne, und ihr Vater spürt eine Kakophonie im Kopf, einen Aufruhr in den Eingeweiden, »… sie hat gesagt, ich solle nicht erschrecken, wenn du wieder heiratest, denn das würde sie sich für dich wünschen.«
    Arthur weiß nicht, was er denken soll. Hat man ihm eine Falle gestellt, oder gibt es gar keine Falle? Hatte Touie schließlich doch Verdacht geschöpft? Hatte sie sich ihrer gemeinsamen Tochter anvertraut? War das eine allgemeine oder eine gezielte Bemerkung? Er hat in den vergangenen neun Jahren mit so verdammt viel Unsicherheit gelebt, dass er nicht glaubt, noch mehr ertragen zu können.
    »Und hatte sie …« Arthur versucht, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, und merkt zugleich, dass das nicht richtig ist – aber es gibt keinen richtigen Ton: »Und hatte sie dabei eine spezielle Kandidatin im Sinn?«
    »Vater!« Mary ist offenkundig entsetzt über den bloßen Gedanken, genau wie über seinen Ton.
    Die Unterhaltung bewegt sich dann auf sichereres Terrain. Doch die Frage lässt Arthur nie los, während er Blumen auf Touies Grab legt, während er aufgewühlt in ihrem leeren Zimmer steht, während er seinen Schreibtisch meidet und merkt, dass er den Anblick der weiterhin eintreffenden Kondolenzschreiben, der Briefe voll wahrer Gefühle nicht

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