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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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wenn er sich noch so vornehm ausdrückte und kleidete – selbst in Hindhead als seltsamer Kauz gegolten, und hier im tiefsten Staffordshire wirkte er zweifellos noch seltsamer. Er war eindeutig ein ausgezeichneter Bursche von scharfem Verstand und großer Charakterstärke. Doch auf den ersten Blick – zumal den ersten Blick eines ungebildeten Landarbeiters, eines dümmlichen Dorfpolizisten, eines engstirnigen englischen Geschworenen oder eines argwöhnischen Vorsitzenden der Quarter Sessions – sah man womöglich nicht mehr als braune Haut und eigentümliche Augen. Er käme einem seltsam vor. Und wenn dann seltsame Dinge passierten, brächte das, was man in einem unaufgeklärten Dorf unter Logik verstand, im Handumdrehen Mensch und Geschehen zusammen.
    Und wenn die Vernunft – die wahre Vernunft – einmal auf der Strecke geblieben ist, verabschiedet man sich am besten gleich ganz von ihr. Die Tugenden eines Menschen werden zu seinen Fehlern umgemünzt. Selbstbeherrschung gilt als Heimlichtuerei, Intelligenz als Verschlagenheit. Und so wird aus einem ehrbaren, halbblinden Solicitor von schmächtiger Gestalt ein Entarteter, der in tiefster Nacht über die Felder schleicht und den wachsamen Augen von zwanzig Hilfspolizisten entgeht, nur damit er im Blut verstümmelter Tiere waten kann. Das ist so vollkommen verdreht, dass es schon wieder logisch erscheint. Und nach Arthurs Ansicht lief alles auf den eigentümlichen Sehfehler hinaus, den er im Foyer des Grand Hotel in Charing Cross sofort erkannt hatte. Darauf gründete sich die moralische Gewissheit der Unschuld George Edaljis, und darum war er zum Sündenbock geworden.
    In Birmingham suchten sie Frederick Brookes in seinem möblierten Zimmer unweit des Kanals auf. Er taxierte die beiden Herren, die für ihn nach London rochen, erkannte das Einschlagpapier der drei Päckchen unter dem Arm des kleineren Herrn und verkündete, sein Preis für Auskünfte sei eine halbe Krone. Sir Arthur gewöhnte sich allmählich an die einheimischen Sitten und bot eine gleitende Skala von einem Shilling Threepence bis zwei Shilling Sixpence an, je nach Nützlichkeit der Antworten. Brookes willigte ein.
    Fred Wynn, sagte er, sei der Name seines Gefährten gewesen. Ja, er war mit dem Klempner und Gasinstallateur von Wyrley verwandt. Ein Neffe vielleicht oder ein Vetter zweiten Grades. Wynn wohnte zwei Bahnstationen weiter, und sie gingen zusammen in Walsall zur Schule. Nein, er hatte gar keinen Kontakt mehr zu ihm. Und was diesen Vorfall damals vor vielen Jahren betraf, den Brief und die Spuckerei – er und Wynn waren sich damals ziemlich sicher gewesen, dass der Junge dahintersteckte, der das Abteilfenster eingeschlagen hatte und dann die Schuld auf sie beide schieben wollte. Sie wiederum hatten diesen Jungen beschuldigt, und die Herren von der Eisenbahngesellschaft hatten sie alle drei sowie Wynns Vater und Brookes Vater befragt. Aber es ließ sich nicht herausfinden, wer nun die Wahrheit sagte, darum erteilten sie am Ende einfach allen eine Verwarnung. Und damit war die Sache erledigt. Der andere Junge hieß Speck. Er wohnte irgendwo in der Nähe von Wyrley. Doch nein, Brookes hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.
    Arthur notierte sich alles mit seinem silbernen Drehbleistift. Er befand, die Information sei zwei Shilling Threepence wert. Frederick Brookes erhob keinen Widerspruch.
    Bei der Rückkehr in das Imperial Family Hotel wurde Arthur eine Nachricht von Jean übergeben.
    Mein liebster Arthur,
    ich bin gespannt, wie Deine großen Ermittlungen vorankommen. Wie gern wäre ich an Deiner Seite, während Du Beweise sammelst und Verdächtige befragst. Alles, was Du tust, bedeutet mir so viel wie mein eigenes Leben. Du fehlst mir, aber ich erfreue mich an dem Gedanken, was Du für Deinen jungen Freund zu erreichen suchst. Berichte alle Deine Erkenntnisse eilends an
    Deine Dich innig liebende
    Jean
    Arthur war verblüfft. Für einen Liebesbrief war das ungewöhnlich direkt. Vielleicht war es gar kein Liebesbrief. Doch, natürlich. Aber irgendwie anders. Nun, Jean war ja auch anders – anders als alles, was er je gekannt hatte. Sie setzte ihn auch nach zehn Jahren noch in Erstaunen. Er war stolz auf sie und stolz auf sein Erstaunen.
    Später, als Arthur die Nachricht ein letztes Mal an diesem Abend las, lag Alfred Wood in einem kleineren Zimmer auf einer höheren Etage wach. In der Dunkelheit konnte er auf seinem Toilettentisch gerade noch die drei eingeschlagenen Päckchen

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