Arthur & George
verstehe.«
Plötzlich überläuft es Jean kalt. »Du wirst doch hoffentlich kein Medium werden, lieber Arthur.« Sie hat ein Bild vor Augen, wie ihr geliebter Mann als marktschreierischer Greis in Trance fällt und mit komischer Stimme spricht. Und wie man die zweite Lady Doyle für die Frau eines Marktschreiers hält.
»O nein, über solche Kräfte verfüge ich nicht. Wahre Medien sind sehr, sehr selten. Das sind oft schlichte, bescheidene Menschen. Wie Jesus Christus, zum Beispiel.«
Jean überhört diesen Vergleich. »Und wie ist das mit der Moral, Arthur?«
»Die Moral bleibt unangetastet. Das heißt, die wahre Moral – die dem Gewissen des Einzelnen und der Liebe Gottes entspringt.«
»Ich meine nicht für dich, Arthur. Du weißt, was ich meine. Wenn die Menschen – die gewöhnlichen Menschen – keine Kirche haben, die ihnen sagt, wie sie sich verhalten sollen, dann fallen sie in primitive Rohheit und Eigennutz zurück.«
»Das ist für mich nicht die Alternative. Spiritisten, wahre Spiritisten, sind Männer und Frauen von hoher Moral. Ich könnte dir mehrere nennen. Und ihre Moral ist noch höher, da sie dem Verständnis spiritueller Wahrheit näher sind. Wenn der gewöhnliche Mensch, von dem du sprichst, einen unmittelbaren Beweis für die Geisteswelt sehen, wenn er erkennen könnte, wie nahe sie uns zu jeder Zeit ist, dann würden Rohheit und Eigennutz ihren Reiz verlieren. Wenn die Wahrheit offenbar wird, kommt die Moral von allein.«
»Arthur, das ist mir zu viel auf einmal.« Eigentlich merkt Jean, dass sie Kopfschmerzen bekommt; ja, sie befürchtet eine Migräne.
»Du hast recht. Wir haben ja noch das ganze Leben vor uns. Und dann die ganze Ewigkeit miteinander.«
Jean lächelt. Sie fragt sich, was Touie die ganze Ewigkeit lang machen wird, die sie und Arthur miteinander vor sich haben. Obwohl sich das Problem natürlich ohnehin stellen wird, egal, ob ihre Kirche die Wahrheit sagt oder diese Medien aus dem niederen Volk, die so viel Eindruck auf ihren künftigen Ehemann machen.
Arthur selbst ist weit davon entfernt, Kopfschmerzen zu bekommen. Das Leben ist wieder in Bewegung: Erst der Fall Edalji und jetzt Jeans plötzliches Interesse an den wahrhaft bedeutsamen Dingen dieser Welt. Bald wird er wieder richtig in Schwung sein. An der Tür nimmt er seine Freundin im Wartestand in die Arme und verspürt, zum ersten Mal seit Touies Tod, die Regungen eines angehenden Bräutigams.
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Anson
Arthur ließ sich an der alten Arrestzelle neben dem White Lion Hotel absetzen. Das Gasthaus lag dem Tor von Green Hall direkt gegenüber. Es war eine instinktive Taktik, zu Fuß anzukommen. Mit der Reisetasche in der Hand folgte er der leicht ansteigenden Auffahrt von der Lichfield Road und bemühte sich dabei, vorsichtig auf dem Kies aufzutreten. Als das von den schräg fallenden Strahlen der schwachen Spätnachmittagssonne erhellte Haus deutlich zu erkennen war, blieb er im Schatten eines Baumes stehen. Warum sollten Dr. Joseph Bells Methoden nicht auch der Architektur, genau wie der Physiologie, Geheimnisse entlocken können? Also: Etwa 1820 , Arthurs Eindruck nach; weißer Putz; pseudo-griechische Fassade; gediegener Portikus mit zwei Paar ionischer Säulen ohne Kanneluren; je drei Fenster zu beiden Seiten. Drei Stockwerke – doch das dritte kam seinem forschenden Blick verdächtig vor. Ja, er hätte mit Wood vierzig zu eins gewettet, dass hinter dieser Reihe von sieben Fenstern kein einziges Dachzimmer lag: ein bloßer architektonischer Trick, um das Haus größer und imposanter wirken zu lassen. Allerdings war dieses Blendwerk nicht dem jetzigen Bewohner anzulasten. Rechts hinter dem Haus konnte Doyle einen abgesenkten Rosengarten, einen Tennisplatz und ein von jungen, gepfropften Hainbuchen umgebenes Sommerhaus ausmachen.
Wovon erzählte das alles? Es erzählte von Geld, Bildung, Geschmack, Geschichte, Macht. Der Name der Familie ging auf das achtzehnte Jahrhundert und Anson den Weltumsegler zurück, der auch den Grundstock für das Vermögen gelegt hatte – mit Prisengeld für das Aufbringen einer spanischen Galeone. Sein Neffe war 1806 in den Stand eines Viscounts erhoben worden; 1831 folgte die Beförderung zum Earl. Wenn das der Sitz des zweitältesten Sohns und dessen älterer Bruder der Herr von Shugborough war, dann wussten die Ansons ihr Erbe zu pflegen.
Hinter einem Fenster im zweiten Stock rief Captain Anson leise seine Frau herbei.
»Blanche, der Große Detektiv ist nicht mehr
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