Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
Vom Netzwerk:
Maud. »Der Ärmste.«
    »Nein, das ist beides nicht das Problem. Er hatte genug Geld, um die Differenz zu zahlen, aber er weigerte sich. Ich will es erläutern. Payelles Anwalt machte geltend, mit dem Erwerb einer Fahrkarte habe sein Mandant seine rechtlichen Pflichten erfüllt, und es sei die Schuld der Eisenbahngesellschaft, wenn sämtliche Türen außer denen der ersten Klasse zu eng für ihn waren. Die Eisenbahngesellschaft brachte vor, wenn er zu dick sei, um in ein bestimmtes Abteil zu gelangen, solle er eine Fahrkarte für ein Abteil lösen, in das er hineinkäme. Was meinen die Geschworenen dazu?«
    Horace ist sehr entschieden. »Wenn er in ein Abteil der ersten Klasse gegangen ist, dann muss er auch dafür bezahlen. Das leuchtet doch ein. Er hätte nicht so viel Kuchen essen sollen. Die Eisenbahn kann nichts dafür, wenn er zu dick ist.«
    Maud ergreift gern Partei für die Schwächeren, und in diese Kategorie fällt für sie auch ein dicker Franzose. »Es ist nicht seine Schuld, dass er dick ist«, sagt sie. »Vielleicht liegt es an einer Krankheit. Oder er hat seine Mutter verloren und vor lauter Traurigkeit zu viel gegessen. Oder – es gibt irgendeinen anderen Grund dafür. Er hat ja niemanden von seinem Platz vertrieben und gezwungen, stattdessen in ein Abteil dritter Klasse zu gehen.«
    »Das Gericht hat den Grund für seinen Körperumfang nicht erfahren.«
    »Dann ist das Gesetz ein dummer Esel«, sagt Horace, der diesen Spruch erst vor kurzem aufgeschnappt hat.
    »Hatte er das schon einmal getan?«, fragt Maud.
    »Nun, das ist ein vortrefflicher Punkt«, sagt George und nickt wie ein Richter. »Er betrifft die Frage der Vorsätzlichkeit. Entweder wusste er aus früherer Erfahrung, dass er zu dick war, um in ein Dritte-Klasse-Abteil zu gelangen, und hat seine Fahrkarte trotz dieses Wissens gekauft, oder er hat seine Fahrkarte in dem ehrlichen Glauben gelöst, er passe ohne weiteres durch die Tür.«
    »Und was stimmt nun?«, fragt Horace ungeduldig.
    »Ich weiß es nicht. Darüber steht nichts in meinem Buch.«
    »Und wie lautet dann die Antwort?«
    »Die Antwort lautet, dass sich die Geschworenen in diesem Fall nicht einig sind – jeder ist für eine andere Partei. Ihr müsst das unter euch ausmachen.«
    »Ich streite mich nicht mit Maud«, sagt Horace. »Sie ist ein Mädchen. Wie ist es in Wirklichkeit ausgegangen?«
    »Ach, das Gericht in Lille entschied zugunsten der Eisenbahngesellschaft. Payelle musste eine Nachzahlung leisten.«
    »Ich habe gewonnen!«, ruft Horace. »Maud hatte Unrecht.«
    »Niemand hatte Unrecht«, antwortet George. »Die Sache hätte auch anders entschieden werden können. Darum kommen solche Fälle ja überhaupt vor Gericht.«
    »Ich habe trotzdem gewonnen«, sagt Horace.
    George ist zufrieden. Er hat das Interesse seiner jugendlichen Geschworenen entfacht, und an den folgenden Samstagnachmittagen legt er ihnen weitere Fälle und Probleme vor. Haben Reisende in einem vollen Abteil das Recht, die Tür zuzuhalten, wenn noch mehr Passagiere vom Bahnsteig aus zusteigen wollen? Ist es juristisch ein Unterschied, ob man eine fremde Brieftasche auf einem Sitz findet oder eine einzelne Münze unter dem Polster? Was sollte geschehen, wenn jemand den letzten Zug nach Hause nimmt und dieser nicht an seinem Bahnhof hält, sodass der Fahrgast fünf Meilen durch den Regen zurücklaufen muss?
    Wenn George merkt, dass die Aufmerksamkeit seiner Geschworenen nachlässt, unterhält er sie mit interessanten Fakten und kuriosen Fällen. Zum Beispiel erzählt er ihnen von den Hunden in Belgien. In England ist es Vorschrift, dass Hunde einen Maulkorb tragen und im Gepäckwagen fahren müssen; in Belgien hingegen erhält der Hund, sofern er eine Fahrkarte hat, den Status eines Fahrgasts. Er führt den Fall eines Jägers an, der mit seinem Retriever in den Zug stieg und vor Gericht ging, als der Hund von dem Platz neben ihm vertrieben wurde, damit ein Mensch diesen Platz einnehmen konnte. Das Gericht entschied – zu Horaces Entzücken und Mauds Leidwesen – zugunsten des Klägers; seither würde in Belgien ein Abteil mit zehn Plätzen, in dem fünf Männer mit ihren fünf Hunden säßen und alle zehn im Besitz einer Fahrkarte wären, rechtlich als voll besetzt gelten.
    Horace und Maud wundern sich über George. Im Schulzimmer strahlt er eine ungewohnte Autorität aus, aber auch eine Art Heiterkeit, als sei er im Begriff, einen Witz zu erzählen, was er ihres Wissens noch nie getan hat. George

Weitere Kostenlose Bücher