Arthur & George
Reisen gibt es Scheidewege und vom Gegner gelegte Fallen. An der Eisenbahn kann man sehen, wie es sein sollte, sein könnte: eine ruhige Fahrt zu einer Endstation auf in gleichmäßigen Abständen verlegten Schienen und nach einem vereinbarten Fahrplan, wobei sich die Fahrgäste auf Wagen der ersten, zweiten und dritten Klasse verteilen.
Vielleicht verspürt George deshalb einen stillen Zorn, wenn jemand der Eisenbahn Schaden zufügen will. Es gibt Jugendliche – vielleicht sogar Männer –, die mit Messern und Rasierklingen auf die ledernen Fensterriemen losgehen, ohne Sinn und Verstand die Bilderrahmen über den Sitzen demolieren, auf Fußgängerbrücken herumlungern und versuchen, Backsteine in den Schornstein der Lokomotiven zu werfen. Dies alles ist George unverständlich. Es mag wie ein harmloses Spiel wirken, einen Penny auf das Gleis zu legen und sich anzusehen, wie er von einem vorbeifahrenden Zug zur doppelten Größe ausgewalzt wird; doch George meint, wer so etwas tut, ist schon vom rechten Pfad abgewichen und zerstört am Ende auch ganze Eisenbahnzüge.
Solche Taten unterliegen natürlich dem Strafgesetz. George aber interessiert sich mehr und mehr für das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Fahrgast und Eisenbahngesellschaft. Ein Reisender löst eine Fahrkarte, und mit Übergabe und Annahme eines Entgelts entsteht ein Vertragsverhältnis. Würde man diesen Reisenden jedoch fragen, welchen Vertrag er soeben abgeschlossen habe, welche Verpflichtungen die Parteien eingegangen seien, welche Entschädigungsansprüche im Falle von Verspätung, technischer Panne oder Unfall gegen die Eisenbahngesellschaft erhoben werden könnten, so bekäme man keine Antwort. Den Reisenden trifft dabei vielleicht gar keine Schuld: Die Fahrkarte verweist auf einen Vertrag, doch dessen genaue Bestimmungen sind nur auf bestimmten Bahnhöfen an den Hauptstrecken und in den Büros der Eisenbahngesellschaft ausgehängt – und welcher eilige Reisende nimmt sich die Zeit für einen Umweg, um sich diese Bestimmungen anzusehen? Dennoch wundert sich George über die Briten, die der Welt die Eisenbahn geschenkt haben und sie nur als ein bequemes Transportmittel betrachten und nicht als ein dichtes Geflecht vielfältiger Rechte und Pflichten.
Er beschließt, Horace und Maud zu Herrn und Frau Durchschnittsbürger zu ernennen – oder im vorliegenden Fall zu Herrn und Frau Fahrgast im Zug zwischen Walsall und Cannock & Rugeley. Er darf das Schulzimmer als seinen Gerichtshof benutzen. Er lässt Bruder und Schwester in den Bänken Platz nehmen und legt ihnen einen Fall vor, auf den er vor kurzem in der Urteilssammlung von Entscheidungen aus dem Ausland gestoßen ist.
»Es war einmal«, beginnt er, wobei er auf eine Art auf und ab geht, die ihm für die Geschichte notwendig erscheint, »ein dicker, fetter Franzose namens Payelle, der über drei Zentner wog.«
Horace fängt an zu kichern. George sieht seinen Bruder tadelnd an und umfasst seine Revers wie ein Barrister beim Plädoyer. »Kein Gelächter im Gerichtssaal«, verlangt er. Er fährt fort. »Monsieur Payelle erwarb eine Fahrkarte dritter Klasse für einen französischen Zug.«
»Wohin wollte er?«, fragt Maud.
»Wohin er wollte, tut nichts zur Sache.«
»Warum war er so dick und fett?«, will Horace wissen. Diese ad hoc zusammengerufenen Geschworenen scheinen zu glauben, sie könnten Fragen stellen, wann immer es ihnen beliebt.
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich war er noch gefräßiger als du. Ja, er war so gefräßig, dass er bei der Einfahrt des Zuges nicht durch die Wagentür zur dritten Klasse passte.« Bei der Vorstellung fängt Horace an zu giggeln. »Darum versuchte er es als Nächstes bei einem Wagen der zweiten Klasse, aber auch dafür war er zu dick. Also versuchte er es bei einem Wagen der ersten Klasse …«
»Und dafür war er auch zu dick!«, ruft Horace, als wäre das die Pointe von einem Witz.
»Nein, meine Damen und Herren Geschworenen, diese Tür war in der Tat breit genug für ihn. Er setzte sich also hin, und der Zug fuhr ab nach – nach irgendwo. Kurz darauf kam der Schaffner, schaute sich seine Fahrkarte an und verlangte den Differenzbetrag zwischen dem Fahrpreis dritter und erster Klasse. Monsieur Payelle weigerte sich zu zahlen. Die Eisenbahngesellschaft verklagte Payelle. Nun, habe ich das Problem deutlich gemacht?«
»Das Problem ist, dass er zu dick war«, sagt Horace und fängt wieder an zu kichern.
»Er hatte nicht genug Geld«, sagt
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