Arthur & George
die Vorhänge jeden Morgen in der wachsenden Gewissheit aufgezogen, auf dem Rasen nichts anderes vorzufinden als den glänzenden Tau Gottes, und das Eintreffen des Briefträgers löst keine Angst mehr aus. Der Pfarrer sagt jetzt häufig, sie seien einer Feuerprobe unterworfen gewesen und hätten diese Prüfung mit Hilfe ihres Glaubens an den Herrn überstanden. Die zarte und fromme Maud wurde so weit wie möglich in Unwissenheit gelassen; Horace, der inzwischen ein kräftiger und offenherziger Junge von sechzehn Jahren ist, weiß mehr und gesteht George insgeheim, seiner Ansicht nach sei der alte Brauch des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« ein durch nichts zu übertreffendes Justizsystem, und sollte er jemals jemanden dabei erwischen, wie er tote Amseln über die Hecke wirft, werde er ihm höchstpersönlich den Hals umdrehen.
George hat bei Sangster, Vickery & Speight kein eigenes Büro, auch wenn seine Eltern das annehmen. Er hat einen Hocker und einen Schreibtisch mit Aufsatz in einem teppichlosen Winkel, in den nur dann ein Sonnenstrahl fällt, wenn es einem fernen Oberlicht beliebt. Er besitzt noch keine Taschenuhr, geschweige denn eine eigene Reihe von Gesetzbüchern. Doch er hat einen standesgemäßen Hut, einen Bowler zu drei Shilling Sixpence von Fenton’s in der Grange Street. Und obwohl sein Bett nach wie vor keine drei Meter von dem seines Vaters entfernt steht, spürt er die ersten Regungen eines unabhängigen Daseins in sich. Er hat sogar die Bekanntschaft zweier Rechtspraktikanten aus benachbarten Kanzleien gemacht. Greenway und Stentson sind etwas älter als er und haben ihn in der Mittagspause einmal in ein Wirtshaus geführt, wo er eine Weile so tat, als schmecke ihm das scheußliche saure Bier, für das er bezahlte.
Während er auf das Mason College ging, hatte George die große Stadt um das College herum wenig beachtet. Für ihn war sie nichts als ein Wall aus Lärm und Betriebsamkeit zwischen dem Bahnhof und seinen Büchern; wenn er ehrlich war, flößte sie ihm Angst ein. Doch nun hat er sich schon etwas eingelebt und möchte die Stadt besser kennenlernen. Wenn ihre Vitalität und Energie ihn nicht erdrücken, wird er sich hier eines Tages vielleicht zu Hause fühlen.
Er liest Bücher über die Geschichte Birminghams. Zuerst findet er sie ziemlich langweilig; da geht es um Messerwaren, Schmiede und Metallverarbeitung, dann um den Bürgerkrieg und die Pest, die Dampfmaschine und die Lunar Society, die »Church and King«-Ausschreitungen und die Chartistenaufstände. Doch dann, vor nur rund zehn Jahren, beginnt der Aufschwung Birminghams zu einer modernen Großstadt, und auf einmal kommt George alles real und relevant vor. Er macht die schmerzliche Entdeckung, dass er einen der größten Momente Birminghams verpasst hat: den Tag im Jahre 1887 , als Ihre Majestät den Grundstein zum Justizpalast Victoria Law Courts legte. Seitdem wird ein neues Bauwerk nach dem anderen errichtet, eine neue Einrichtung nach der anderen gegründet: das General Hospital, die Chamber of Arbitration, der Fleischmarkt. Zurzeit wird Geld für die Gründung einer Universität aufgebracht, der Bau einer neuen Temperance Hall ist in Planung, und es ist ernsthaft die Rede davon, dass Birmingham vielleicht schon bald Bischofssitz wird und nicht mehr der Diözese Worcester untersteht.
Als Queen Victoria damals in der Stadt weilte, kamen 500 000 Menschen zu ihrer Begrüßung zusammen, und trotz dieser riesigen Menge gab es weder Zwischenfälle noch Verletzte. George ist beeindruckt, wenngleich nicht überrascht. Der allgemeinen Meinung zufolge herrscht in den Städten Gewalt und Übervölkerung, während es auf dem Lande ruhig und friedlich zugeht. Er selbst hat die gegenteilige Erfahrung gemacht: Auf dem Land ist es turbulent und primitiv, während das Leben in der Stadt in geordneten Bahnen verläuft, wie es der modernen Zeit entspricht. Natürlich ist Birmingham nicht frei von Verbrechen, Laster und Zwietracht – sonst fänden hier nicht so viele Solicitors ihr Auskommen –, doch wie George scheint, benehmen sich die Menschen hier rationaler und gesetzestreuer, mit einem Wort, zivilisierter.
Die tägliche Fahrt in die Stadt ist für ihn bedeutungsvoll und tröstlich zugleich. Eine Reise mit einem Ziel: Man hat ihm beigebracht, das ganze Leben so zu begreifen. Zu Hause ist das Himmelreich das Ziel; in der Kanzlei ist das Ziel Gerechtigkeit, und das heißt, ein gutes Resultat für den eigenen Mandanten; doch auf beiden
Weitere Kostenlose Bücher