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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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gerückt. Er empfindet sie nicht als Wahrheiten, die ihn direkt angehen, und sieht sie nicht täglich und stündlich wirken. Natürlich erzählt er seinen Eltern nichts davon.
    In der Schule wurden ihm weitere Geschichten und Erklärungen des Lebens vorgelegt. Die Wissenschaft sagt dies, die Geschichte jenes, die Literatur wiederum das … George entwickelte ein Geschick darin, Prüfungsfragen zu diesen Themen zu beantworten, selbst wenn sie für ihn leblos und tot blieben. Dafür hat er die Jurisprudenz entdeckt, und endlich hat die Welt für ihn einen Sinn. Bislang unsichtbare Verbindungen beginnen sich abzuzeichnen – zwischen Menschen, zwischen Dingen, zwischen Gedanken und Prinzipien.
    Zum Beispiel sitzt er im Zug zwischen Bloxwich und Birchills und schaut aus dem Fenster auf eine Hecke. Er sieht nicht das, was seine Mitreisenden sähen – verschlungenes Buschwerk, vom Wind zerzaust, das nistenden Vögeln ein Zuhause bietet –, sondern eine förmliche Grenze zwischen Landbesitzern, eine durch Vertrag oder Gewohnheitsrecht entstandene Demarkationslinie, etwas Aktives, das gutes Einvernehmen oder aber Streit bewirken kann. Im Pfarrhaus sieht er das Hausmädchen den Küchentisch scheuern, und statt eines derben und plumpen Mädchens, das womöglich die Bücher an die falsche Stelle legt, hat er einen Arbeitsvertrag und eine Sorgfaltspflicht vor Augen, ein komplexes und fein gesponnenes Beziehungsgeflecht, geschaffen von einer jahrhundertelangen Rechtsprechung, von der die beteiligten Parteien überhaupt nichts wissen.
    Auf juristischem Terrain fühlt er sich glücklich und sicher. Man muss viel Textexegese betreiben, denn ein Wort kann verschiedene Bedeutungen haben; und es gibt fast so viele Kommentare zu den Gesetzen wie zur Bibel. Doch am Ende wird kein weiterer Sprung verlangt. Am Ende hat man eine Vereinbarung, ein Urteil, an das man sich halten muss, eine Übereinkunft darüber, was die Worte bedeuten. Es ist eine Reise von der Konfusion zur Klarheit. Ein betrunkener Seeman schreibt seinen letzten Willen auf ein Straußenei; der Seemann ertrinkt, das Ei wird gerettet, und die Justiz bringt Logik und Fairness in die vom Meerwasser verwaschenen Worte des Seemanns.
    Andere junge Männer teilen ihr Leben in Arbeit und Vergnügen ein; ja, sie verbringen das eine, indem sie von dem anderen träumen. George meint, die Juristerei gebe ihm beides. Er hat weder das Bedürfnis noch den Wunsch nach sportlicher Betätigung, Bootsfahrten oder Theaterbesuchen; er hat kein Interesse an Alkohol oder Schlemmereien oder an Pferden, die um die Wette laufen; er hat wenig Lust zu reisen. Er hat seine Praxis, und zum Vergnügen hat er das Eisenbahnrecht. Es ist erstaunlich, dass es für die Zehntausende von Zugreisenden pro Tag keinen praktischen Taschenratgeber gibt, der ihnen Einblick in ihre Rechte gegenüber der Eisenbahngesellschaft verschafft. Er hat sich an die Firma Effingham Wilson gewandt, in deren Verlag »Wilson’s Legal Handy Books« erscheinen, und nach Vorlage eines Musterkapitels haben sie sein Angebot angenommen.
    George wurde zum Glauben an Fleiß, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Wohltätigkeit und Liebe zur Familie erzogen, und auch zum Glauben daran, dass Tugend sich selbst genug ist. Darüber hinaus soll er als das älteste Kind Horace und Maud ein Vorbild sein. George wird mehr und mehr bewusst, dass seine Eltern zwar ihre drei Kinder gleich lieben, er aber die Hauptlast ihrer Erwartungen trägt. Maud kann immer Anlass zur Sorge geben. Horace ist ein in jeder Hinsicht vollkommen anständiger Kerl, doch das Lernen hat ihm nie so recht gelegen. Er ist von zu Hause ausgezogen und mit Hilfe eines Vetters der Mutter als niederer Verwaltungsbeamter im Staatsdienst untergekommen.
    Und dennoch gibt es Momente, in denen George sich dabei ertappt, dass er Horace beneidet, der nun als möblierter Herr in Manchester wohnt und ab und zu fröhliche Postkarten aus einem Badeort am Meer schickt. Es gibt auch Momente, in denen er wünscht, Dora Charlesworth existiere tatsächlich. Aber er kennt keine Mädchen. Es kommen keine ins Haus; Maud hat keine Freundinnen, mit denen er sich in solchen Bekanntschaften üben könnte. Greenway und Stentson prahlten gern mit ihren Erfahrungen auf diesem Gebiet, doch George hatte oft seine Zweifel an ihren Behauptungen und ist froh, die beiden nicht mehr um sich zu haben. Wenn er auf seiner Bank am St Philip’s Place sitzt und seine Sandwiches isst, wirft er vorübergehenden jungen Frauen

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