Arthur & George
…«
»Ich verstehe.«
»Ich spreche nicht von ihrer Empfängnisfähigkeit …«
»Mr Powell, ich bin doch kein Narr. Und auch kein Scheusal.«
»Diese Dinge müssen unmissverständlich klar sein, das werden Sie verstehen. Der zweite Punkt ist vielleicht weniger offensichtlich. Er betrifft die Auswirkungen – die wahrscheinlichen Auswirkungen – auf die Patientin. Auf Mrs Doyle.«
»Ja?«
»Unserer Erfahrung nach verläuft die Schwindsucht anders als andere Auszehrungskrankheiten. Die Patienten haben im Allgemeinen kaum Schmerzen. Oft macht die Krankheit weniger Beschwerden als ein weher Zahn oder ein verdorbener Magen. Doch ihre Besonderheit liegt im mentalen Bereich. Die Patienten sind oft sehr optimistisch.«
»Sie meinen, wie berauscht? Wie im Fieber?«
»Nein, ich meine optimistisch. Heiter und gelassen, würde ich sagen.«
»Aufgrund der Medikamente, die Sie verschreiben?«
»Ganz und gar nicht. Es liegt im Wesen dieser Krankheit. Und das unabhängig davon, wie sehr sich die Patienten der Schwere ihres Falls bewusst sind.«
»Nun, das ist mir eine große Erleichterung.«
»Ja, am Anfang mag das so sein, Mr Doyle.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, wenn die Patientin nicht leidet und nicht klagt und trotz ihrer schweren Krankheit fröhlich bleibt, dann muss jemand anders das Leiden und Klagen übernehmen.«
»Sie kennen mich nicht, Sir.«
»Das ist wahr. Aber ich wünsche Ihnen dennoch die nötige Tapferkeit.«
In guten wie in schlechten Tagen; in Reichtum und Armut. Eins hatte er vergessen: in Gesundheit und Krankheit.
Das Irrenhaus schickte Arthur die Skizzenbücher seines Vaters. Charles Doyles letzte Jahre waren elend gewesen, er hatte auf seiner unausweichlich letzten Station gelegen und keinerlei Besuch bekommen; aber er war nicht im Wahnsinn gestorben. So viel war klar: Er hatte weiterhin aquarelliert und gezeichnet und auch ein Tagebuch geführt. Plötzlich wurde Arthur bewusst, dass sein Vater ein bedeutender Künstler gewesen war, den alle seine Kollegen unterschätzt hatten; ja, er hätte durchaus eine postume Ausstellung in Edinburgh – vielleicht gar in London – verdient. Unwillkürlich sann Arthur darüber nach, wie gegensätzlich ihr Schicksal verlaufen war: Während der Sohn Ruhm und die Gunst der Gesellschaft genoss, machte sein verlassener Vater immer wieder mit der Zwangsjacke Bekanntschaft. Arthur empfand keine Schuld – in ihm keimte nur Mitleid mit seinem Vater auf. Ein Satz in dessen Tagebuch hätte jedem Sohn das Herz gerührt. »Ich glaube«, hatte er geschrieben, »ich bin nur deswegen als verrückt gebrandmarkt, weil die Schotten eine falsche Auffassung von einem Scherz haben.«
Im Dezember jenes Jahres fand Holmes in Moriartys Armen den Tod; beide wurden von der ungeduldigen Hand ihres geistigen Vaters in die Tiefe gestürzt. Die Londoner Zeitungen hatten keinen Nachruf auf Charles Doyle gebracht, doch jetzt waren sie empört und entsetzt über den Tod eines beratenden Detektivs, den es gar nicht gab, dessen Beliebtheit seinem Schöpfer aber nun lästig und sogar zuwider wurde. Für Arthur sah das so aus, als sei die Welt verrückt geworden: Sein Vater lag seit kurzem unter der Erde, seine Frau war zu Tode erkrankt, und im Geschäftsviertel von London trugen junge Männer anscheinend schwarze Bänder am Hut zum Zeichen ihrer Trauer um Mr Sherlock Holmes.
Als dieses betrübliche Jahr zu Ende ging, geschah noch etwas. Einen Monat nach dem Tod seines Vaters beantragte Arthur die Aufnahme in die Society for Psychical Research.
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George
George besteht seine Abschlussprüfung mit Second Class Honours und wird mit einer Bronzemedaille der Birmingham Law Society ausgezeichnet. Er eröffnet eine Kanzlei in der Newhall Street 54 und hat für den Anfang Arbeit in Aussicht, die bei Sangster, Vickery & Speight nicht bewältigt werden kann. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, und seine Welt beginnt sich zu verändern.
Obwohl George ein Kind des Pfarrhauses ist, obwohl er als guter Sohn ein Leben lang auf das gehört hat, was von der Kanzel in St Mark’s verkündet wurde, hat er häufig den Eindruck, die Bibel nicht zu verstehen. Nicht alles, was dort steht, und nicht immer; ja, nicht genug und nicht oft genug. Es wird stets ein gewisser Sprung verlangt, von Tatsachen zum Glauben, vom Wissen zum Verstehen, zu dem er sich nicht imstande fühlt. Darum kommt er sich vor wie ein Heuchler. Die Lehren der Kirche von England sind für ihn in immer weitere Ferne
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