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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Eingangshalle an seinen Platz gehievt wurde, nahm er Touie mit, damit sie der Enthüllung beiwohnen konnte. Sie stand vor dem Fenster, ließ den Blick über die Farben und Namen gleiten und schließlich auf dem Wahlspruch des Hauses ruhen.
    »Das wird der Mama gefallen«, bemerkte er. Erst das kleine Zögern seiner Frau, bevor sie lächelte, verriet ihm, dass etwas nicht in Ordnung war.
    »Du hast recht«, sagte er sofort, obwohl sie noch immer kein Wort gesprochen hatte. Wie konnte er nur so ein Dummkopf sein? Den eigenen illustren Ahnen huldigen und dabei die Familie der Mutter glatt vergessen? Im ersten Moment wollte er die Arbeiter das ganze verfluchte Fenster wieder ausbauen lassen. Später, nach schuldbewusstem Grübeln, gab er ein zweites, bescheideneres Fenster für die Treppenbiegung in Auftrag. In dessen Mitte sollte das vergessene Wappen und der Name stehen: Foley of Worcestershire.
    Er beschloss, das Haus nach dem steilen Wäldchen, unter dem es lag, Undershaw zu nennen. Der Name würde diesem modernen Bau ein vornehmes alt-angelsächsisches Flair verleihen. Hier könnte das Leben weitergehen wie zuvor, wenn auch mit Vorsicht und in gewissen Grenzen.
    Das Leben. Wie leicht dieses Wort jedem, ihn selbst eingeschlossen, über die Lippen ging. Das Leben muss weitergehen, sagte man gewohnheitsmäßig, und alle stimmten zu. Doch wie selten fragte jemand, was dieses Leben ist, und warum es ist, und ob es das einzige Leben ist oder ein bloßes Amphitheater für etwas ganz anderes. Es war Arthur häufig ein Rätsel, mit welcher Selbstgefälligkeit die Menschen mit … mit dem fortfuhren, was sie unbekümmert ihr Leben nannten, als wäre ihnen der Sinn des Wortes wie auch dessen, was es bezeichnete, völlig klar.
    Sein alter Freund aus Southsea, General Drayson, war zu einem überzeugten Spiritualisten geworden, nachdem auf einer Séance sein Bruder zu ihm gesprochen hatte. Danach behauptete der Astronom, das Weiterleben nach dem Tod sei keine bloße Vermutung, sondern eine beweisbare Tatsache. Arthur hatte ihm damals höflich widersprochen; dennoch standen auf seiner Leseliste in jenem Jahr vierundsiebzig Werke über den Spiritualismus. Er hatte sie alle verschlungen und sich einzelne eindrucksvolle Stellen und Leitsätze notiert. Wie diesen Ausspruch von Hellenbach: »Es gibt einen Skeptizismus, der blödsinniger ist als der einfältigste Tölpel.«
    Bevor Touies Krankheit offenbar wurde, hatte Arthur alles, was ein Mann nach landläufiger Meinung zu seiner Zufriedenheit brauchte. Und doch wurde er das Gefühl nie recht los, was er erreicht hatte, sei nichts als ein belangloser, trügerischer Anfang, und er sei für etwas ganz anderes geschaffen. Doch was mochte dieses andere sein? Er nahm seine Beschäftigung mit den Weltreligionen wieder auf, fand sie aber allesamt so wenig passend für sich wie einen Knabenanzug. Er trat der Rationalist Association bei und hielt ihr Wirken für notwendig, aber im Grunde destruktiv und daher fruchtlos. Die Zerstörung überholter Religionen war eine wesentliche Bedingung für den Fortschritt der Menschheit gewesen; doch wo sollte der Mensch, da die alten Gebäude nun geschleift waren, in dieser verdorrten Landschaft Zuflucht finden? Wie konnte jemand kurzerhand verfügen, die Geschichte dessen, was die Menschheit seit Jahrtausenden einvernehmlich die Seele nannte, sei nun zu Ende? Die Menschen würden sich weiterentwickeln, daher musste sich das, was in ihrem Innern war, gleichfalls weiterentwickeln. Das konnte doch selbst ein skeptischer Tölpel einsehen.
    In der Umgebung von Kairo hatte Arthur, während Touie in tiefen Zügen die Wüstenluft einatmete, historische Abhandlungen über die ägyptische Kultur gelesen und die Pharaonengräber besichtigt. Er kam zu dem Schluss, dass die alten Ägypter zwar die Künste und Wissenschaften unbestreitbar zu neuer Blüte gebracht hatten, ihre Denkweise aber in vielerlei Hinsicht nur zu verachten war. Vor allem ihre Einstellung zum Tod. Die Vorstellung, der tote Körper – ein alter, abgetragener Mantel, der einmal für kurze Zeit die Seele umhüllt hatte – müsse um jeden Preis erhalten werden, war nicht nur lachhaft, damit wurde auch der Materialismus auf die Spitze getrieben. Und dass man Körbe mit Proviant in die Gräber stellte, damit die Seele auf ihrer Wanderung etwas zu essen hatte: Wie konnte ein hochkultiviertes Volk geistig so verweichlicht sein? Religiöser Glaube, durch Materialismus verstärkt: ein doppelter Fluch. Und

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