Arthur & George
lange aufrecht halten. Mr Vachell muss das erklären, er muss protestieren.
Stattdessen erhob sich Mr Disturnal. Nun, da ein Schuldspruch erlangt war, konnte er Großmut üben. Die Beschuldigung, der Angeklagte habe Sergeant Robinson einen Drohbrief geschickt, werde nicht weiter verfolgt.
»Führen Sie ihn hinunter« – und schon lag Constable Dubbs Hand auf seinem Arm, und noch ehe er Zeit hatte, einen letzten Blick mit seiner Familie zu wechseln und sich noch einmal in dem hellen Gerichtssaal umzusehen, in dem er sich so zuversichtlich Gerechtigkeit erhofft hatte, wurde er durch die Klapptür hinuntergestoßen, hinein ins flackernde Gaslicht des dämmrigen Kellers. Dubbs erklärte ihm höflich, in Anbetracht des Urteils sei er nun gezwungen, den Angeklagten bis zum Abtransport ins Gefängnis in eine Zelle zu stecken. Dort saß George dann regungslos, in Gedanken noch im Gerichtssaal, und ging langsam die Ereignisse der letzten vier Tage durch: Beweismittel, Antworten im Kreuzverhör, juristische Taktiken. Über den Eifer seines Solicitors oder die Tüchtigkeit seines Barristers konnte er sich nicht beklagen. Was den Vertreter der Anklage anging: Mr Disturnal hatte schlau und feindselig argumentiert, aber das war zu erwarten gewesen; und ja, Mr Meek hatte recht gehabt mit seiner Bemerkung, der Mann könne auch mit nicht vorhandenen Steinen Häuser bauen.
Und dann war seine Fähigkeit zu ruhiger professioneller Analyse erschöpft. Er war unendlich müde und zugleich übererregt. Seine logischen Gedankengänge gerieten aus dem Tritt; sie taumelten, überstürzten sich, folgten der Schwerkraft des Gefühls. Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass ihn noch vor wenigen Minuten nur wenige Menschen – meist Polizisten und dazu vielleicht ein paar törichte Dummköpfe aus der Bevölkerung, solche, die gern an die Türen einer vorüberfahrenden Droschke schlagen – tatsächlich für schuldig gehalten hatten. Nun aber – und bei dieser Erkenntnis übermannte ihn die Scham –, nun würde ihn fast jeder für schuldig halten. Zeitungsleser, seine Anwaltskollegen in Birmingham, Fahrgäste im Frühzug, an die er Werbezettel für Railway Law verteilt hatte. Dann stellte er sich einzelne Menschen vor, die ihn für schuldig halten würden: Mr Merriman zum Beispiel, der Stationsvorsteher, und Mr Bostock, der Lehrer, und der Fleischer Mr Greensill, der ihn von nun an immer an den Handschriftenexperten Gurrin erinnern würde, den Mann, der ihm zutraute, blasphemische Lästerungen und Unflätigkeiten zu schreiben. Und nicht nur Gurrin – auch Mr Merriman und Mr Bostock und Mr Greensill würden glauben, George habe nicht nur Tieren den Bauch aufgeschlitzt, sondern obendrein blasphemische Lästerungen und Unflätigkeiten verfasst. Auch das Hausmädchen im Pfarrhaus würde das glauben, und der Kirchenvorsteher und Harry Charlesworth, dessen Freundschaft er erfunden hatte. Selbst Harrys Schwester Dora würde ihn – falls es sie gäbe – mit Abscheu betrachten.
Er malte sich aus, wie ihn all diese Menschen ansahen – und nun kam auch Mr Hands, der Stiefelmacher, dazu. Mr Hands würde denken, George habe sich fachmännisch ein Paar neue Stiefel anmessen lassen, sei danach ruhig nach Hause gegangen, habe sein Abendessen eingenommen und sich hinterlistig ins Bett gelegt, und dann sei er hinausgeschlichen, über die Felder gelaufen und habe ein Pony verstümmelt. Und als George sich all diese Zeugen und Ankläger vorstellte, grämte er sich so über sich selbst und das, was man seinem Leben angetan hatte, dass er am liebsten für alle Zeiten in diesem unterirdischen Dämmer geblieben wäre. Doch ehe er sich noch auf dieser Stufe des Elends einrichten konnte, wurde er wiederum weggerissen, denn natürlich würden all diese Menschen in Wyrley nicht ihn mit diesen anklagenden Blicken anschauen – zumindest nicht für viele Jahre. Nein, sie würden seine Eltern anschauen: seinen Vater auf der Kanzel, seine Mutter bei ihren Runden durch die Gemeinde; sie würden Maud anschauen, wenn sie einen Laden betrat, und Horace, wenn er aus Manchester nach Hause kam – falls er nun, da sein Bruder so tief gesunken war, je wieder nach Hause käme. Alle würden sie schauen und mit dem Finger zeigen und sagen: ihr Sohn, ihr Bruder hat die Gräueltaten von Wyrley verübt. Und er hatte seiner Familie, die ihm alles bedeutete, diese öffentliche und fortdauernde Demütigung angetan. Seine Angehörigen wussten, dass er unschuldig war, doch das machte
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