Artikel 5
Treppenhauswache abgesehen war der Korridor inzwischen leer.
Tucker beendete gerade irgendeine Schreibarbeit, als ich mich endlich in sein Büro schleppte. »Was wollen Sie?«, fragte ich.
Er zog die Waffe aus dem Halfter, und ich dachte, das war’s. Jetzt bringt er mich um. Also bereitete ich mich innerlich auf den Schmerz vor, der mich erwartete. Aber stattdessen verstaute er die Waffe in einem Tresor in der hinteren Ecke, schloss ihn ab und legte den Schlüssel in seine Schreibtischschublade. Zischend drang wieder Luft in meine Lunge. Tucker hielt einen Herzschlag lang inne und musterte mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck.
»Du bist nicht verheiratet , oder?« Er hörte sich an wie ein Zehnjähriger, der über Brokkoli redete.
Mir stieg die Röte ins Gesicht, eine subtile Erinnerung daran, dass ich immer noch ein lebendiger, atmender Mensch war.
»Nein.«
»Und was ist mit diesem Ring?«
Beinahe war ich überrascht, ihn immer noch am Finger zu haben.
»Nichts. Den habe ich gefunden.«
Es war der Ring, den Chase den Loftons gestohlen hatte. Als wir vorgegeben hatten, wir wären verheiratet. Eine Täuschung wie so vieles, wenn es um ihn ging.
Da Tucker mich beobachtete, nahm ich den Ring nicht ab, obwohl er sich plötzlich viel zu eng anfühlte. Seine Miene wechselte wieder zu dem gewohnten, arroganten Gesichtsausdruck.
»Ich habe mit meinem kommandierenden Offizier gesprochen. Bis zu deinem Prozess verbringst du die Nächte unter meiner Obhut.«
So etwas hatte ich mir schon gedacht, trotzdem schauderte ich und überlegte, wer von uns wohl bessere Chancen hatte, auch am Morgen noch am Leben zu sein.
»Ich habe heute gesehen, was bei euren Prozessen herauskommt«, erklärte ich anklagend.
Ich erinnerte mich daran, wie sich das Gesicht des toten Soldaten vor meinen Augen in das von Chase verwandelt hatte. Für einen Moment fragte ich mich, ob Chase das gleiche Entsetzen durchlitten hatte, wann immer ich meine Mutter erwähnt hatte. Ob die Furcht mit jeder Erinnerung wieder auflebte. Aber schon war das Gefühl wieder fort, vernebelt von dem vagen Eindruck, verraten worden zu sein.
»Und?«, fragte Tucker, als wäre so eine Exekution nicht der Rede wert. »Die beste Methode, um Insubordination zu unterbinden, ist, schnell und entschlossen zurückzuschlagen.«
Die Worte hatte ihm zweifellos irgendein Offizier eingetrichtert, doch die Andeutung von Stolz in seiner Stimme widerte mich derartig an, dass ich beinahe hinausgestürzt wäre. Stattdessen dachte ich an Wallace und den Widerstand. An Rebecca, die vielleicht immer noch hier war, in diesem Gebäude, und ich wusste, ich musste bleiben.
»Gebt ihr denen eine Tablette oder so was?«
»Eine Spritze. Strychnin. Sie können nicht mehr atmen. Ihre Muskeln verkrampfen sich, und sie bekommen Zuckungen. Und dann sterben sie. Das geht schnell.« Es war beinahe, als hätte er mir mit seinen letzten Worten Trost zusprechen wollen, aber sein Tonfall änderte sich nicht.
»Macht ihr das auch mit Mädchen? Strychnin?« Ich bemühte mich um eine furchtsame Miene, obwohl ich keine Furcht verspürte. Sterben schreckte mich nicht mehr so wie früher, und Tucker Morris ängstigte mich nicht. Er war schwach. Er brauchte die MM . Er brauchte etwas, woran er glauben konnte, denn er selbst hatte nicht genug zu bieten, um an sich zu glauben.
»Manchmal«, antwortete er, und ich wusste, er dachte an meine Mutter, und ich hasste ihn dafür. Es stand ihm nicht zu, an sie zu denken, ganz egal, worum es ging.
»Wissen Sie, ob hier ein Mädchen namens Rebecca Lansing exekutiert wurde? Sie ist aus der Besserungsanstalt in West Virginia hergebracht worden. Blond, süß …«
»Klasse Vorbau.«
»Schätze schon.« Ich schöpfte Hoffnung.
»Nein.«
»Sie haben doch gerade gesagt …«
»Solche Informationen kann ich dir nicht geben.« Das Machtgefühl brachte seine Augen zum Schimmern. »Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Wir könnten einen Handel schließen.«
»Was müsste ich tun?«, fragte ich misstrauisch. Plötzlich wurde mir allzu deutlich bewusst, wie klein das Büro war.
»Wie wäre es mit einem Kuss? Dann sehen wir, wohin uns das führt.« Er lehnte sich an die Wand und reckte das Becken vor. Sein gesunder Arm hing lässig an seiner Seite, und sein Gesicht glühte vor Überheblichkeit. Ich konnte derweil nicht fassen, dass er ein Mädchen küssen wollte, von dem er wusste, dass es in weniger als einer Woche tot sein würde.
»Lassen Sie die
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