Artikel 5
erweisen, wenn ich mich exakt dem gleichen Schicksal ergäbe.
Also verweilte ich auf Messers Schneide, balancierte zwischen Draufgängertum und Verzweiflung.
Ich wollte die Bilderflut aufhalten, aber sie drang weiter auf mich ein. Die Dunkelheit bildete den Rahmen, in dem sich Chases Erinnerungen wie ein Film vor mir abspulten.
Meine Mutter in ihrer Zelle, allein, so wie ich jetzt, aber voller Angst. Chase kam herein, begleitet von Tucker Morris und anderen Soldaten. Chase hob die Waffe. Hatte sie sich zur Wehr gesetzt? Darauf wettete ich. Dann Furcht, gefolgt von Mitgefühl und dem geflüsterten Flehen, mich zu beschützen. Die verdrehte Erkenntnis, dass er eben das zu tun versuchte, indem er sie tötete. Aber er konnte sie nicht töten. Das tat sein gesichtsloser kommandierender Offizier. Und er war gezwungen, dabei zuzusehen.
Ich hatte Chase ihren Tod vorgeworfen. Für mich hatten die Fakten ein klares Bild ergeben. Aber als ich nun die Szenerie im Geiste durchspielte, veränderte sie sich und war plötzlich gar nicht mehr so klar. Er war zum Prügelknaben der MM geworden, weil er einfach er selbst gewesen war. Ihm Vorwürfe zu machen ergab keinen Sinn mehr.
Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömten durch mich hindurch, ebenso wie meine Trauer, mein Kummer, mein Hass. Meine Selbstverachtung war so viel umfassender als das, was ich in Chases Augen erkannt hatte. Und so viel gerechtfertigter.
Ich hatte einen entsetzlichen Fehler begangen.
Chase war nach dem Krieg zurückgekommen, um mich zu suchen. Er war der Einberufung gefolgt, weil ich es ihm gesagt hatte. Er hatte immer versucht, mich zu beschützen, sogar wenn das hieß, dass er in Gefahr geriet, selbst zu sterben oder einen anderen Menschen töten zu müssen. Seine Lügen waren als Schutzschild für mich gedacht. Das war ein Fehler, aber ich konnte ihm nicht mehr so uneingeschränkt vorwerfen, dass er die Wahrheit vor mir zurückgehalten hatte, nun, da ich darüber nachgedacht hatte, was er hatte durchmachen müssen.
Die ganze Zeit war es ihm nur um meine Sicherheit gegangen, und ich hatte ihn zurückgewiesen. Ich hatte versucht, ihn noch tiefer zu verletzen, als er bereits verletzt war. Und zwar mit Erfolg.
Doch es waren Seans Worte, die sich durch meine Selbstquälerei bohrten.
Die sind schuld, Miller. Nicht wir. Dem FBR sollte es leidtun.
Nun begriff ich es mehr als je zuvor. Was passiert war, war nicht Chases Schuld. Und nicht meine. Eigentlich war es nicht einmal Tuckers Schuld. Es war die Schuld des FBR . Des Präsidenten. Die ließen alle anderen leiden, und diejenigen, die den Schmerz nicht spürten, hatten eine Gehirnwäsche verpasst bekommen.
Energisch drehte ich an dem kleinen goldenen Ring an meinem Finger.
Bis zum Morgen hatte ich einen Plan.
Ich würde diesen Stützpunkt verlassen. Ich würde zum Widerstand zurückgehen und Chase finden, wo immer er auch war. Ich musste wenigstens versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Für ihn. Für meine Mutter. Für Rebecca.
Und wenn ich das nicht konnte, dann wollte ich bei dem Versuch sterben.
Zu meinem Entsetzen wurde am Morgen ein weiterer Soldat »abgeschlossen«. Ein Mann, dem ich keinen Tag vorher noch sein Essen gebracht hatte, lag ausgestreckt auf dem Boden, halb unter dem Bett versteckt. Seine Lippen waren weiß, das Gesicht grau, die Augen geöffnet und leblos.
Mir wurde genauso übel wie am Vortag, und ich fragte mich, ob ich das hätte verhindern können. Ob ich diesen Mann hätte retten können. Ich würde mich nie an all das gewöhnen, wie es Delilah offenbar getan hatte.
Wir befolgten das gleiche Protokoll wie am Vortag, nur dass ich die Galle, die mir die Kehle emporstieg, dieses Mal sofort schluckte und mich auf die Feinheiten der Aufgabe konzentrierte. Darauf, in welche Richtung Delilah den Fahrstuhl verließ. Auf den dunklen Korridor dort unten, in dem sich niemand aufzuhalten schien. Auf die einzelnen Gelegenheiten, zu denen sie ihren Schlüssel brauchte. Und schließlich auf den exakten Ort, an dem sie den Wagen vor dem Krematorium abstellte.
Das alles musste ich mir genau merken, denn wenn ich diesen Ausflug das nächste Mal unternahm, würde ich allein unterwegs sein.
Zum Mittagessen gab es wieder die Pampe aus der Cafeteria, was wenig dazu beitrug, meinen Magen zu beruhigen, aber ich brauchte die Energie für das, was vor mir lag.
Als der Tag zu Ende ging, folgte ich Delilah in den Lagerraum und trug dabei die Decke über der
Weitere Kostenlose Bücher