Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
Vom Netzwerk:
Tür aufschwang, wusste ich, warum Delilah mich nach meinem Magen gefragt hatte.
    Der Mann lag verdreht vor uns auf dem schmalen Bett. Seine Knie waren der Matratze zugewandt, während die Schultern zur Decke zeigten. Das braune Haar war immer noch wirr, und ein schwarz verfärbter Bluterguss zierte immer noch seine teigige Wange.
    Aber jetzt war er tot.
    Mein Gehirn beschwor ein Bild von dem Mann herauf, der auf dem Platz verhungert war. Davon, wie dürr und zerbrechlich sein Körper ausgesehen hatte. Davon, dass ich gedacht hatte, er würde schlafen, obwohl er in Wirklichkeit längst tot gewesen war.
    Das hier war anders. Dieser Mann sah tot aus. Nicht friedlich. Nicht schlafend. Sondern aschfahl und kalt und gequält, so als wäre sein Geist getötet worden, ehe sein Körper dazu bereit war. Und jetzt begriff ich auch, warum die Leute Verstorbenen die Augen schlossen. Diese leblosen Kugeln folgten mir wie die Augen der Mona Lisa .
    Ich wich einen Schritt zurück und spürte ein Pochen in den Knien. Binnen Sekunden zitterte ich am ganzen Körper. Dabei konnte ich nicht aufhören, den Toten anzustarren. Mein Gehirn verwandelte sein Gesicht in das von Chase. Die dunklen, forschenden Augen erloschen. Sollte er geschnappt werden, war dies das Schicksal, das ihn erwartete.
    Auch jetzt wollte ich nicht, dass Chase sterben musste. Ich hoffte, er war weit weg. Hoffte, dass er geflohen war, nachdem er mein Verschwinden bemerkt hatte.
    Delilah stemmte den Leichnam in eine sitzende Position hoch, während ich die Galle aufsteigen spürte. Entschlossen schluckte ich die Übelkeit hinunter, während sie den Toten seitwärts in den Wäschewagen rollte. Mit dumpfem Schlag kam er auf dem Metallboden auf.
    Mir war schlecht. Ich zwang mich, mich zu konzentrieren. Wenigstens einen Anschein von Stärke aufzubauen.
    »Hältst du dich noch aufrecht?«, fragte Delilah, als sie den Wagen den Korridor hinunter in Richtung der Treppe schob.
    Obwohl sie mich nicht anschaute, nickte ich und hinkte ein wenig hinterher. Ich achtete auf meine Füße, darauf, immer einen vor den anderen zu setzen. Das war das Einzige, worauf ich mich konzentrieren konnte, ohne mich zu erbrechen.
    »Es hilft, wenn man sie nicht als Menschen sieht.«
    Ja. Ich konnte mir vorstellen, dass das half.
    Am Ende des Gangs gab es einen Lastenaufzug. Er war schwarz und speckig und schlecht beleuchtet. Sie schob den Wäschewagen hinein, und ich versuchte mir einzureden, dass in dem Ding keine Leiche lag.
    Im Erdgeschoss stiegen wir aus und verließen das Gebäude durch eine unbewachte Tür, die Delilah mit demselben Schlüssel an ihrem Hals öffnete. Sie schob den Wagen eine dunkle Gasse hinunter, bis wir an einen hohen Zaun kamen, der mit gerolltem Stacheldraht gesichert war. In dem Zaun gab es ein Tor und eine von zwei Soldaten bemannte Wachstube. Als sie den Wagen sahen, ließen sie uns passieren, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.
    »Ich nehme an, die wissen, was wir hier tun«, stellte ich fest.
    »Hilfst du mir?«, fragte Delilah, als ihr der Wagen zu schwer wurde. Ich atmete tief ein, trat neben sie und ergriff eine Seite des glatten Metallgriffs. Gemeinsam schoben wir den Wagen einen steilen, asphaltierten Weg hinauf, der von gerade geschnittenen Hecken gesäumt wurde, die sich bis zur Rückseite der Einrichtung zogen. Bis wir den Hang hinter uns hatten, schwitzte ich.
    Oben angekommen sah ich ein Betongebäude vor mir, flach und viereckig, umgeben von wunderschönen Trauerweiden, die einen krassen Kontrast zu der schwarzen Rauchfahne bildeten, die aus dem Kamin quoll. Die Luft stank nach Schwefel. Die Auffahrt mündete vor dem Eingang in einem tränenförmigen Vorplatz.
    »Da rüber.« Delilah deutete zu einer Tür. Ich half ihr, den schweren Wagen zu einem Nebeneingang mit einem Sonnendach aus Segeltuch zu schieben. Sie drückte auf die Klingel. Und dann ging sie ohne Vorwarnung davon.
    »Wir lassen ihn … das … einfach hier?«, fragte ich.
    Sie nickte. »Krematorium.«
    Mir drehte sich der Magen um.
    An so einen Ort hatten sie auch meine Mutter gebracht. Ich empfand ein so gewaltiges Entsetzen, ich war kaum noch imstande, ihr hinterherzustolpern.
    Die Übelkeit erdrückte alle anderen Gefühle, und so gelang es mir schließlich doch mit einiger Mühe, Delilah hinauf zur höchsten Stelle des Hügels zu folgen. Dort angekommen hielt sie inne. Ich folgte ihrem Blick und spürte, wie meine Füße zum ersten Mal, seit wir diesen dritten Raum betreten

Weitere Kostenlose Bücher