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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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seine Jacke ab und warf sie ihm über die Schultern. Einen endlosen Moment lang schauten sie einander an. Trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, wie sich seine Züge entspannten.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es wird alles gut. Ich verspreche es.«
    Eine seiner Hände ruhte etwas unbeholfen an seinem Halsansatz, als wären seine Muskeln zu angespannt. Dann schlüpfte er in die Jacke und verschwand in der Dunkelheit.
    Rebeccas Miene verhärtete sich, als sie zurück zu unserem Zimmer stapfte. Widerstrebend folgte ich ihr und ärgerte mich, dass ich stolperte und strauchelte, während sie mühelos ihren Weg fand. Andererseits, so sagte ich mir, hatte sie diesen Weg schon mehr als einmal hinter sich gebracht.
    Als wir zum dritten Fenster von links kamen, schob Rebecca es hoch – wohl deutlich gröber, als sie es getan hätte, wäre ich in dem Zimmer gewesen – und hüpfte flink hinauf, sodass ihre Hüfte auf dem Fensterbrett lag. Dann ließ sie sich zurückfallen und rollte sich auf ihr Bett. Ich folgte ihr auf dem Fuße, allerdings nicht annähernd so elegant.
    Drinnen umgaben wir uns eine Weile mit angespannter Stille.
    »Wie konntest du?«, platzte sie dann doch heraus. Im gedämpften Mondschein, der durch das Fenster hereindrang, sah ich, dass ihr Gesicht vor Kälte und Zorn gerötet war. »Ich hätte dich laufen lassen sollen, so wie diese Rosa. Ich wusste, dass du abhauen wolltest. Hätte ich geahnt, dass du mich erpressen wirst, hätte ich dich laufen lassen! Wie konntest du nur?«
    All ihr Zorn und ihre Furcht und ihr Entsetzen brachen mit einem Mal hervor.
    » Ich ? Du bist ja so eine Heuchlerin ! Ich habe dich um Hilfe gebeten, und du hast mich einfach ignoriert! Dieses Gerede über Sommerlager und wie toll du es hier findest, nur um Brock in den Arsch zu kriechen. Alles Lügen! Du bist zehnmal so schlimm wie sie; du kannst es nur besser verstecken.«
    »Du hast absolut recht. Und?« Sie legte die Hände an die Hüften.
    Meine Augen weiteten sich. »Du brauchst eine Therapie. Ernsthaft. Und ich bin bestimmt kein Idiot, weil ich dir geglaubt habe. Du bist einfach eine verdammt gute Schauspielerin.«
    »Ja«, bestätigte sie. »Das bin ich.«
    Ich setzte mich auf mein Bett und musterte sie. Sie saß auf ihrem Bett und starrte mich an. Als wären wir wieder Kinder und wollten herausfinden, wer zuerst den Blick senken würde. Schließlich brach Rebecca das Schweigen.
    »Du hast ihn auch in Gefahr gebracht, ganz ohne Grund«, sagte sie. »Niemand flieht von hier. Entweder, du verlässt das Gelände mit deinen Entlassungspapieren oder auf der Ladefläche eines FBR -Vans.«
    »Was soll das heißen?«, würgte ich hervor. Meine Finger tasteten automatisch nach dem Bluterguss an meinem Hals.
    Sie gab einen unbehaglichen Laut von sich. »Die Wachen haben Anweisung, jeden zu erschießen, der das Gelände verlässt.«
    Meine wunden Hände legten sich auf meinem Rock übereinander. Darum hatte Sean nach seiner Waffe gegriffen. Er hätte einfach sagen können, er hätte mich auf der Flucht erschossen. Niemand hätte Fragen gestellt, wenn sie meine Leiche so weit vom Wohnheim entfernt gefunden hätten. Plötzlich empfand ich eine Woge der Zuneigung gegenüber Rebecca. Wäre sie nicht gewesen und hätte Sean meinen Tod gewollt , dann würde ich jetzt gerade in einem Wald in West Virginia verbluten.
    Andererseits wäre ich gar nicht dort gewesen, hätte sie sich nicht rausgeschlichen.
    »Glaubst du wirklich, dass die das tun?«, fragte ich, obwohl das kaum eine Frage war. Ich hatte den kalten, toten Ausdruck in den Augen der Soldaten gesehen. Ich konnte mir von einigen, die mir begegnet waren – Morris, Chases Freund von der Festnahme, und Randolph, der hiesige Wachmann –, gut vorstellen, dass sie ein Mädchen umbringen würden.
    »Ich weiß, dass sie das tun. Die Letzte, die sie …« Sie zögerte und sah sich zum Fenster um, und ich wusste, sie fragte sich, wo Sean jetzt war. »Es war Stephanies alte Zimmergenossin.«
    Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass jetzt Rosa Stephanies Zimmergenossin war.
    Rebecca schluckte. »Ihr Name war Katelyn. Katelyn Meadows.«

»Katelyn Meadows?«, wiederholte ich benommen. Sie steht nicht auf der Vermisstentafel. Ihre Familie ist nach der Verhandlung weggezogen.
    Sie stand nicht auf der Vermisstentafel, weil sie keine Vermisste war. Sie war tot. Ich war froh, dass ich schon saß, denn meine Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gummi.
    »Sie war nett«, meinte Rebecca.

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