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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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irgendwas. Es war kein Eindringling. Niemand kam her, um mich zu holen. Nicht einmal, wenn ich es mir gewünscht hätte.
    »Rebecca?« Dieses Mal lag meine Lautstärke knapp über einem Flüstern. Sie rührte sich nicht.
    Ich glitt vom Bett und tapste zum Fenster, ohne die Scheibe aus den Augen zu lassen.
    Wieder sagte ich ihren Namen. Sie lag absolut regungslos da.
    Ich legte eine Hand auf die Matratze. Mondschein fiel durch das Fenster und hüllte die Verbände an meinen geschwollenen Händen in ein fahles Blau. Meine Fingerspitzen tasteten sich zur Decke vor.
    Und zu dem Kissen, das darunter lag.
    »Was zum Teufel?«, fluchte ich laut. Ruckartig blickte ich auf, schaute zum Fenster hinaus und zum Wald, wo eine Gestalt in Weiß gerade zwischen den Bäumen verschwand. Mein Unterkiefer klappte nach unten.
    Rebecca floh. Diese Heuchlerin. Genau davon hatte sie mich vorher abgehalten, obwohl sie selbst die ganze Zeit nichts anderes geplant hatte. Aber ich hatte keine Zeit, mich damit zu befassen. Rebecca hatte einen Ausweg entdeckt, einen, der mehr Planung beinhaltete als Rosas impulsive Flucht, und ich wollte verdammt sein, ehe ich mich damit zufriedengäbe, dass sie mich hier zurückließ.
    Ich rammte die Füße in meine Schuhe und warf mir die Jacke, die auf meinem Stuhl gelegen hatte, über den Rücken. Gespannte Erwartung kollidierte mit der panischen Angst, geschnappt zu werden. Zugleich wallte Trotz in mir auf.
    Ich dachte gar nicht darüber nach, als ich mit meinen dreckigen Schuhen auf Rebeccas Bett kletterte; ich hätte die Sache mehr genossen, hätte ich das getan. Als ich das Fenster hochschob, gab es das gleiche Klicken und Rasseln von sich, das ich zuvor gehört hatte.
    Von unserem Zimmer im Erdgeschoss aus war es beinahe zu leicht, sich über das Fensterbrett zu ziehen, die Beine rauszuschwingen und die Füße auf den Boden zu stellen. Tatsächlich war es so einfach, dass ich mich fragte, warum das sonst niemand versucht hatte. Plötzlich regten sich Zweifel in mir – es musste doch einen Grund geben, dass nach Zapfenstreich nicht gleich die ganze Schule verschwunden war –, aber wenn Brocks heißgeliebte kleine Schwester dort draußen war, dann musste sie wissen, was sie tat.
    Ich zwang mich zu einem langsamen, schmerzhaften Atemzug und ging los. Mein Rock rutschte hoch, und die nächtliche Kälte nagte bis über die Oberschenkel an meiner Haut, aber kaum hatte ich festen Boden unter den Füßen, da rannte ich auch schon.
    Es war hell genug, dass ich den Weg zumindest teilweise sehen konnte. Ich sprintete über eine schmale Straße und in den Wald, genau da, wo ich Rebecca hatte verschwinden sehen. Das Brummen eines Stromgenerators überlagerte das Knirschen des Laubs unter meinen Füßen und war mir Segen und Fluch zugleich. Niemand konnte mich hören, aber ich konnte auch niemanden hören.
    Doch wie sehr ich mich auch davor fürchtete, geschnappt zu werden, meine Füße liefen einfach weiter. Rebecca war seit drei Jahren hier. Sie kannte dieses System und diese Einrichtung. Sie würde keine Flucht riskieren, solange sie nicht überzeugt war, dass es klappen würde.
    Je tiefer ich in den Wald vordrang, desto dunkler wurde es, obwohl die Sterne am Himmel leuchteten. Ich fragte mich, wohin es wohl gehen mochte. Vielleicht zu einem kaputten Zaun. Die tiefen Schatten verschmolzen mit dem Nachthimmel. Nur hier und da betonte noch ein wenig Licht kahle Zweige oder die Rinde der Baumstämme. Ich hatte die Hände vor mir ausgestreckt und tastete mich vorsichtig voran. Langsam wurde ich unruhig, fürchtete, ich könnte sie verloren haben. Der Generator wurde lauter.
    Endlich hörte ich Stimmen. Eine Männerstimme und eine Stimme, die so quirlig war, sie konnte nur Rebecca gehören. Abrupt blieb ich stehen, kauerte mich zusammen und suchte hinter dem Stamm eines abgebrochenen Baums Deckung. Aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. So leise wie möglich schlich ich näher heran.
    »Ich kann nicht fassen, dass Randolph sie geschlagen hat«, hörte ich Rebecca sagen.
    »Ja. Und gefallen hat ihm das auch noch, dem kranken Mistkerl.« Die Stimme klang vertraut.
    »Sean … was habt ihr mit ihr gemacht?«
    »Brock hat gesagt, wir sollen sie zur Hütte bringen. Komm schon, du wusstest doch, was passiert.«
    Meine Muskeln versteiften sich. Sie redeten nicht über mich; sie redeten über Rosa.
    Vor meinem geistigen Auge erhob sich das nicht gekennzeichnete Gebäude neben der Ambulanz. War das die »Hütte«?

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