Artikel 5
»Ich gebe mir Mühe, hier niemanden gernzuhaben – die werden doch alle komisch. Aber sie war in Ordnung.«
»Ich weiß«, sagte ich leise. Ich konnte mich gut an das Bild auf den Postern rund um die Schule erinnern und an das lächelnde Gesicht im Geschichtsunterricht an der Junior High.
»Hast du sie gekannt?«, fragte Rebecca.
Ich nickte. »Nicht gut, aber ja. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«
»Oh.« Sprachlos nagte sie an ihrem Daumennagel.
»Wann ist das passiert?«
»Ich glaube, das ist ungefähr sechs Monate her. Sie hatte beinahe die Altersgrenze erreicht, da hat Brock sie gebeten zu bleiben und als Lehrerin zu arbeiten. Und wenn Brock bittet, dann ist das eigentlich keine Bitte.«
Hier bin ich das Gesetz , hatte Ms Brock gesagt, als sie meine Hände gepeitscht hatte. Nein, ich ging nicht davon aus, dass das Angebot, das sie Katelyn gemacht hatte, sich auch nur entfernt wie eine Bitte angehört hatte.
Vor sechs Monaten war ich gerade in die Zwölfte an der Western gekommen. Katelyn wäre ebenfalls in der Zwölften gewesen. Ich wusste nicht recht, ob mich die Nachricht von ihrem Tod traurig machte. Eigentlich kannte ich sie nicht gut genug, um zu trauern. Aber mir graute vor dem, was diese Neuigkeit für mich und meine Chance, von hier zu entkommen, bedeutete. Mir war übel, ich hatte Angst, und ich kam mir selbstsüchtig vor, alles auf einmal.
Ich rieb mir die Augen. Sie brannten von den getrockneten Tränen an meinen Wimpern.
»Hat Sean …«
»Nein. Nein, es war jemand anderes.« Sie lächelte schwach. »Sean hat noch nie jemanden getötet. Das hat er mir selbst erzählt. Das FBR lässt sie an Zielscheiben üben, die die Form von Menschen haben, und selbst das hat er kaum über sich gebracht. Darum haben sie ihn in eine Besserungsanstalt für Mädchen geschickt und ihn aus der Stadt ferngehalten.«
Ich stellte mir vor, wie sich die Soldaten auf dem Schießstand sammelten, und schauderte. Chase war nicht in eine Besserungsanstalt für Mädchen geschickt worden, was nur bedeuten konnte, dass er besser war als die Jungs hier. Ich fragte mich, ob er jemanden getötet hatte, aber der Gedanke war so quälend, dass ich ihn gleich wieder verdrängte.
»Anscheinend hat nicht jeder ein Gewissen wie Sean«, sagte ich erbittert.
»Richtig«, stimmte sie zu. »Randolph hast du ja auch schon kennengelernt.«
Unwillkürlich schlang ich die Arme um die Knie. Meine Finger schmerzten. »War er es? Der, der … Katelyn das angetan hat?«
Es war dunkel, aber ich konnte sie dennoch nicken sehen. »Wie du siehst, hat so ein Fluchtversuch eigentlich keinen Sinn.«
»Ich muss es trotzdem versuchen«, sagte ich. »Wenn sie uns so etwas antun, was meinst du, machen die dann mit meiner Mutter.«
Sie zögerte. »Wahrscheinlich das Gleiche.«
Ich sprang so hastig auf, dass mir schwindelig wurde. »Was hat Sean dir erzählt? Du musst es mir sagen!« Unsere Abmachung hing schwer zwischen uns in der Luft. Nun, da ich ihr Geheimnis kannte, musste sie mich nicht mehr belügen.
»Er hört nicht so viel«, wich sie abwehrend aus.
Die Soldaten in dieser Schule waren isoliert; ihre Kameraden standen in direktem Kontakt zu ihrem Führungsstab, aber diese besondere Einheit, in der diejenigen dienten, die an irgendeinem Punkt in ihrer Ausbildung versagt hatten, so wie Sean, war dem Befehl der Heilsschwestern unterstellt worden.
»Wer sind diese Schwestern eigentlich?«, fragte ich. »Unterstehen die alle Ms Brock?«
»Das hätte sie gern«, erklärte Rebecca. »Brock wurde aufgrund des Erneuerungsgesetzes vom Erziehungsministerium eingesetzt. Sie ist so etwas wie die Schulvorsteherin dieser Region. Es gibt andere Brocks in anderen Gegenden, die andere Besserungsanstalten leiten und den gleichen eisernen BH tragen.« Sie kicherte. »So nennt Sean das – ›eiserner BH ‹ anstelle von eiserner Faust, weißt du?«
»Hab’s kapiert«, seufzte ich matt. Es gab also mehr böse Direktorinnen. Und mehr Besserungsanstalten. Das reichte vollkommen, dass ich mich einmal mehr unendlich schwach fühlte. Rebeccas Lächeln schwand.
»Brock sagt, die Schwestern werden die Macht ergreifen«, sagte sie. »Sie führen Wohltätigkeitsorganisationen, kontrollieren die Lebensmittelverteilung und so weiter. Aber wer weiß, ob das stimmt?«
Meine Mom hatte ehrenamtlich in unserer örtlichen Suppenküche gearbeitet, aber ich konnte sie mir nicht in einem blauen Rock und mit einem albernen blauen Taschentuch um den Hals
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