Artikel 5
Schrecken wich schlichter Verzweiflung.
»Die glaubt dir nie«, sagte er.
»Vielleicht nicht. Aber sie werden ein Auge auf sie haben, meinst du nicht? Sie werden eine Wache vor unserem Zimmer aufstellen, um sicherzugehen, dass sie nichts versucht, und …« Ganz ehrlich, ich hatte keine Ahnung, was Ms Brock tun würde, aber Seans zunehmend düstere Miene verriet mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
»Du darfst es ihr nicht sagen … Miller, nicht wahr? Becca kommt in drei Monaten raus. So viel Zeit musst du ihr geben.«
»Überlass das mir, Sean«, sagte sie.
Dieser Anfall von Ritterlichkeit versetzte mich in Erstaunen. Wollte er sie wirklich beschützen? Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Vielleicht waren die innerlich gar nicht so tot, wie es schien.
Na ja, manche vielleicht.
»Du … du darfst es nicht erzählen, Ember. Du darfst nicht.«
»Und was soll mich daran hindern?«
Sean holte hörbar Luft und öffnete den Riemen, der die Waffe an seinem Gürtel sicherte. In seinen runden Augen spiegelte sich ein innerer Kampf, der mir verriet, dass er mich nicht erschießen wollte, aber das konnte meine Furcht kein bisschen mindern. In diesem Moment fiel mir Randolphs Schlagstock an meiner Kehle ein und Brocks Gerte auf meinen Händen, und ich fragte mich, wie ich auf die Idee kam, dieser Soldat wäre nicht fähig, so etwas oder auch weit Schlimmeres zu tun.
Ich kämpfte den Drang nieder, einfach davonzulaufen.
»Sie hat gesagt, die nächste Wache kommt in ein paar Minuten durch«, keifte ich. »Wie wollt ihr erklären, dass Rebecca hier war, als du mich erschossen hast?« Inzwischen zitterte ich, und ich hoffte, dass sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnten. Er würde mich nicht erschießen. Nicht deswegen. Das konnte er nicht. Das Risiko war zu groß.
Bitte, lass nicht zu, dass er mich erschießt.
»Sean«, sagte Rebecca sanft. Er ließ die Hand sinken, aber ich hielt immer noch die Luft an.
»Also, was willst du?«, fragte Sean. Im Gegenzug für mein Schweigen war er bereit, sich auf einen Handel einzulassen.
»Ich muss hier raus. Ich muss meine Mutter suchen«, sagte ich. Meine Stimme wurde immer heiserer, je mehr ich sprach.
»Wir müssen los!« Rebeccas Stimme klang inzwischen etwas schriller, und sie schaute sich über die Schulter um, vermutlich auf der Suche nach dem nächsten Wachsoldaten, der auf seinem Rundgang vorbeikam. Nun, da ich erklärt hatte, ich würde Brock informieren, hatte sie Angst, ich würde es jedem erzählen.
Sean atmete scharf ein. »Und wenn ich dir helfe, schwörst du, dass du der Direktorin nichts erzählst.« Das war keine Frage. Er hatte einen weiteren Schritt auf mich zu getan, sodass er nun zwischen mir und seiner Freundin stand. Ich war erstaunt, wie hager er plötzlich wirkte, nun, da sein Gesicht vor Furcht verzerrt war. Wie groß die Augen aussahen. Wie schmal die Lippen.
» Nein. Sean, nein!« Rebecca zerrte an seinem Arm wie ein kleines Kind. Als er mich weiterhin anstarrte, schob sie sich an ihm vorbei und baute sich gerade ein paar Zentimeter vor mir auf. »Wenn er erwischt wird, bekommt er Schwierigkeiten. Ernste Schwierigkeiten. Du …«
»Miller«, forderte mich Sean zu einer Antwort auf, ohne auf sie zu achten.
»Ja, ich schwöre es. Du bringst mich hier raus, und ich werde Ms Brock nichts erzählen.« Ich spürte, wie etwas in mir zerbrach. Plötzlich musste ich an das Entsetzen denken, das sich im Gesicht meiner Mutter niedergeschlagen hatte, als ich Roy aufgefordert hatte, unser Haus zu verlassen. Ich hatte versucht, das Richtige zu tun, aber ich konnte es kaum ertragen, jemand anderem Schmerz zuzufügen, um mein Ziel zu erreichen. So anders war das auch jetzt nicht, obwohl ich diese Leute kaum kannte.
»Gut«, sagte Sean. »Ich … lasse mir was einfallen.« Er trat gegen den Baumstamm, hinter dem ich mich zuvor versteckt hatte.
»Was? Wann?« Nachdem er sich einverstanden erklärt hatte, rauschte das Blut wieder in meinen Adern.
»Nicht jetzt. Sie hat recht. Die nächste Wache kommt bald durch. Du musst mir Zeit zum Nachdenken geben.«
Ich war enttäuscht, aber ich wusste, dass ich in dieser Nacht nicht mehr erwarten konnte.
»Danke … Sean«, sagte ich. Seinen Namen auszusprechen machte ihn für mich unendlich viel realer. Plötzlich hätte er auch ein Junge sein können, den ich aus der Schule kannte. Er jedoch zuckte zurück, und seine Miene war voller Verachtung.
Einen Augenblick später schüttelte Rebecca
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