Artikel 5
Namen nannte, fühlte ich mich überrumpelt. Seit er wieder da war, sprach er ihn nur aus, wenn er mir Befehle erteilte oder verärgert oder auch überrascht war. Aber die bekümmerte Art, wie er ihn nun ausgesprochen hatte, tat mir im Herzen weh.
»Und es tut mir leid wegen gestern, das, w-w-was ich gesagt habe. Ich habe es nicht so gemeint. Und alles andere auch. Reformschule … und alles. Ich hätte nie gedacht … Gott, sieh dir deine Hände an. Und ich weiß, dir sind noch schlimmere Dinge zugestoßen. Ich sehe es dir an. Ich wünschte … es tut mir so leid.« Er trat auf den Boden ein und zuckte zusammen, als hätte er sich einen Zeh gebrochen.
Ich hatte gewusst, dass ihm die Narben aufgefallen waren, die Brocks Gerte hinterlassen hatte, und mein Unbehagen beim Anblick seiner Waffe, aber ich war erstaunt darüber, wie sehr ihm all das zu schaffen gemacht hatte. Bisher hatte er keinen Ton darüber verloren.
Ich hielt es nicht länger aus, also rückte ich näher an ihn heran und ließ mich nicht beirren, als er zurückwich. Ich rieb seine Arme, vorsichtig, um die Wunde nicht zu berühren. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Entschuldigung hatte mich so vollkommen unvorbereitet erwischt, und ich wusste nicht, ob ich seinen Worten trauen durfte.
»Nicht«, sagte er in wenig überzeugendem Ton. »Es ist nicht gut, wenn du …«
»Wenn ich dich berühre? Mach dir keine Gedanken, ich werde es niemandem erzählen«, entgegnete ich tief getroffen.
»Ich bin nicht mehr der, der ich war«, sagte er. »Sei nicht nett zu mir.«
Ich fragte mich, was er so Schlimmes getan haben mochte, dass er keine Spur des Entgegenkommens von einem anderen Menschen ertragen konnte. In diesem Moment schien es mir unvorstellbar, dass ich ihn je mehr würde hassen können, als er sich selbst hasste.
Ganz sanft, beinahe, als wäre ich aus Glas, schob er mich weg. Ich wusste, er fürchtete, er könnte mir erneut wehtun, aber wie er sich auch bemühte, die Zurückweisung tat weh.
»Ich hätte dich wieder reingelassen«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Ich musterte ihn. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen.
»Und warum …?«
»Ich habe versprochen, dir nie wehzutun.«
Ich betastete meinen Hals. Von seinem Griff war nichts zurückgeblieben; dafür hatte er zu schnell wieder losgelassen. Er hatte mich erschreckt, aber nicht verletzt.
Als wären seine Schuldgefühle und die Verlegenheit nicht schlimm genug, suchte er Bestrafung durch die Kälte und seine eigene Kraft, nahm den Schmerz an, basierend auf der verdrehten Logik, die besagte, er hätte es verdient – eine Logik, die er sich, wie mir bewusst war, durch die MM zu eigen gemacht hatte. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, genug Ärger aufzubringen, um mit ihm zu schimpfen, aber das gelang mir nicht. Was ich jedoch empfand – Mitgefühl –, konnte ich nicht mit ihm teilen, denn ich wusste, er würde es nur dazu missbrauchen, seine Scham zu vertiefen. Folglich hielt ich mich zurück, als ich erneut das Bedürfnis verspürte, ihn in meine Arme zu schließen. Ich beschränkte mich darauf, dicht bei ihm zu stehen, während er auftaute, und zu hoffen, dass meine Anwesenheit reichte, ihm klarzumachen, dass er genug gebüßt hatte.
Im Lauf des Tages wurde es wärmer, aber nicht sehr. Die frostigen Temperaturen machten den Boden unter unseren Füßen schlüpfrig, und der Nebel raubte uns die Sicht; all das sorgte dafür, dass wir nur noch mit der halben Geschwindigkeit des Vortags vorankamen. Jeder Schritt erforderte doppelt so viel Konzentration und Mühe.
Zwei Tage zogen dahin, Tage, während derer wir wenig aßen, schliefen oder redeten. Die Zeit verrann. Als am Montag die Sonne aufging, erfasste uns ein angespanntes Gefühl der Dringlichkeit. Wir hatten nicht einmal mehr einen Tag, um den Checkpoint zu erreichen.
Und das war nicht unser einziges Problem. Wir hatten unsere Vorräte rationiert, trotzdem gingen uns am frühen Morgen die Lebensmittel aus, und wir hatten seit dem Vortag keinen Bach mehr gesehen, an dem wir unsere Feldflaschen hätten nachfüllen können. Mein Magen fühlte sich schrecklich leer an.
Als wir uns der Zivilisation näherten, kehrte auch der Müll, der die Gegend verschandelte, in zunehmendem Maße zurück. Chase stakste durch den Schrott, die Dosen und die verblassten Horizons-Etiketten und suchte nach Verwertbarem. Die Vorstellung, Abfälle zu essen, kam mir nicht mehr so abstoßend vor wie früher.
Am späten Nachmittag hörten wir
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