Artikel 5
legte beide Hände an den Kopf und drückte dabei den Lauf der Waffe der Länge nach an seine Schläfe.
Er wird sich erschießen, dachte ich voller Schrecken.
»Passen Sie auf, ich lege meine Waffe weg, einverstanden?«, sagte Chase. »Sie legen Ihre auch weg, und wir besorgen Ihnen was zu essen.« Unter Schock sah ich zu, wie Chase sich bückte. Verhandlungsführung war Teil seiner Ausbildung gewesen, aber ob das eine gute Idee war? War die Waffe erst weg, war er schutzlos.
Ein Knistern im Gebüsch lenkte meine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.
Der Junge verließ sein Versteck.
»Hey, Kleiner!«, flüsterte ich. »Runter!«
Er hörte nicht. Anscheinend glaubte er, Chase hätte die Situation entschärft.
»Dad!« Plötzlich rannte der Junge auf den Bauern zu, der den Schläger fallen ließ, während seine verwunderte Miene einem Ausdruck puren Entsetzens Platz machte.
Der Dieb fluchte erschrocken, riss die silberne Waffe herum und zielte auf den Jungen, der aus dem Gebüsch rannte.
»Ember, STOPP !«, brüllte Chase.
Bis zu diesem Moment hatte ich nicht einmal gemerkt, dass ich ebenfalls aufgestanden war und dass meine Füße im Laufschritt unterwegs waren. Zu dem Jungen. Ich war ihm näher als der Vater, ich konnte ihn eher aufhalten. Das war alles, woran ich denken konnte.
Krach! Der Schuss wurde in dem Moment abgefeuert, in dem ich gegen den Jungen prallte. In einem Haufen wild ineinander verkeilter Glieder purzelten wir keuchend ins Gras.
»Ronnie!« Der Bauer schleuderte mich einfach zur Seite, als er voller Besorgnis nach seinem kleinen Sohn griff und dessen Körper auf Verletzungen untersuchte. Meine Augen taten es ihm gleich. Jeans und Sweatshirt waren voller Schlamm und das unschuldige Gesicht bleich vor Schrecken, aber er hatte keine Schusswunde davongetragen, und ich fühlte keinen Schmerz abgesehen davon, dass mir der Sturz die Luft aus dem Leib getrieben hatte, damit blieb nur …
»Chase!« Auf einmal war ich wieder auf den Beinen und rannte durch das feuchte Gras und allerlei Pfützen auf die beiden Männer am Boden zu. Ich brauchte eine ganze Sekunde, um zu begreifen, dass sie kämpften und keiner von ihnen tödlich verletzt worden war, zumindest bis jetzt.
Als ich die tote Kuh umrundet hatte, erkannte ich, dass Chase die Oberhand hatte. Er war gute zwanzig Kilo schwerer als sein Kontrahent und hatte seine Jugend und seine Ausbildung auf seiner Seite. Die Frau hatte ihn ebenfalls angegriffen, war aber allem Anschein nach einfach fortgestoßen worden und schluchzte nun jämmerlich vor sich hin. Und irgendwie waren beide Schusswaffen auf dem Feld gelandet.
Chases Waffe entdeckte ich zuerst, da sie am nächsten lag. Hastig las ich sie auf, vergaß jedoch alles über Sicherungen und Kammern und zielte einfach auf die wirre Masse blutbefleckter Kleidung, die vor mir über den Boden rollte.
Meine Hände zitterten. Ich konnte nicht auf einen der beiden schießen, ohne Gefahr zu laufen, beide zu erwischen.
»Aufhören!«, brüllte ich.
Chase rammte dem Dieb heftig den Ellbogen ins Gesicht. Der Mann krallte sich in Chases verletzten Arm, und Chase gab ein gepeinigtes Zischen von sich.
In dem Moment veränderte sich etwas in meinem Inneren, jagte wie ein Blitz mein Rückgrat hinab. Das Blut strömte heiß und schnell durch meine Adern. Mein Blickfeld verengte sich zu schmalen Schlitzen, über die sich ein roter Schleier zog. Plötzlich war mir völlig egal, wie bedauernswert oder hungrig dieser Fremde sein mochte.
Das musste aufhören. Sofort.
Ich richtete die Waffe aufwärts, gen Himmel, und zog den Abzug. Ein lautes Pop donnerte durch meine Trommelfelle. Die Pistole ruckte zurück und jagte einen brutalen Stoß durch mein Handgelenk und über meinen Unterarm. Ich schrie auf, und die Waffe fiel aus meiner tauben Hand auf den Boden. In mein Bewusstsein kehrte absurde, aber friedvolle Stille ein.
Chase sprang auf. Seine Schultern bebten. Von der ruhigen, vermittelnden Miene war nichts geblieben. Statt ihrer war die darunter verborgene Grausamkeit zum Vorschein gekommen. Seine Augen suchten wie wild nach der Quelle des Schusses und blieben schließlich an mir hängen.
Die Frau half ihrem Mann auf die Beine. Sein Mund und seine Nase waren unter all dem Blut und Schmutz kaum mehr zu erkennen. Ohne ein weiteres Wort flüchteten die beiden in den Wald.
Ich starrte ihnen nach und kam mir plötzlich so deplatziert vor wie ein Hammer ohne Nagel. Was mache ich jetzt nur? Es war alles so
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