Artus-Chroniken 1. Der Winterkönig
und folgten uns auch nicht, als wir langsam den Osthang der Insel hinabschritten. Nimue sagte kein Wort. Ihr Wahnsinn hatte sie in dem Augenblick verlassen, da meine Hand die ihre berührte, aber sie war danach erschreckend schwach. Ich half ihr über die schwierigeren Stellen des Pfades. Ohne weiter belästigt zu werden, passierten wir die Höhlen der Eremiten. Möglich, daß
sie alle schliefen, aber vielleicht hatten die Götter die Insel ja auch mit einem Bann belegt, während wir beiden uns in nördlicher Richtung immer weiter von den toten Seelen entfernten.
Die Sonne ging auf. Jetzt sah ich, daß Nimues Haare vor Schmutz starrten und von Läusen wimmelten, daß ihre Haut verdreckt war und daß sie ihr goldenes Auge verloren hatte. Sie war so schwach, daß sie kaum gehen konnte, und als wir den Berg zum Damm hinunterstiegen, hob ich sie auf und merkte, daß sie weniger wog als ein zehnjähriges Kind. »Du bist sehr schwach«, sagte ich zu ihr.
»Ich bin schwach geboren, Derfel«, gab sie zurück, »und verbringe mein ganzes Leben damit, so zu tun, als wäre es anders.«
»Du brauchst Ruhe«, sagte ich.
»Das weiß ich.« Sie legte den Kopf an meine Brust und war es ein einziges Mal in ihrem Leben zufrieden, daß jemand sich um sie kümmerte.
Ich trug sie zum Damm und über die erste Mauer. Links neben uns brachen sich die Wogen des Meeres, rechts glänzte die Bucht im reflektierten Licht der aufgehenden Sonne. Wie ich sie an den Wachen vorbeibringen sollte, wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß wir die Insel verlassen mußten, weil das ihr Schicksal und ich das Werkzeug dieses Schicksals war. Also marschierte ich weiter und vertraute darauf, daß die Götter sich des Problems schon annehmen würden, wenn wir die letzte Mauer erreicht hatten.
Ich trug sie über die mittlere, von Schädeln gekrönte Mauer und schritt Dumnonias morgengrünen Hügeln entgegen. Da ich über der glatten, reinweißen Fläche der letzten Mauer nur die Silhouette eines einzigen Speerkämpfers sah, vermutete ich, daß einige Wachen über die Bucht gerudert waren, als sie entdeckt hatten, daß ich die Insel verlassen wollte. Am Kiesufer standen mehr Wachen. Sie hatten sich so postiert, daß sie mir den Durchgang zum Festland verstellten. Wenn ich unbedingt töten muß, sagte ich mir, werde ich eben töten. Das war der Wille der Götter, nicht der meine, und Hywelbane würde mit der Gewandtheit und mit der Kraft der Götter zuschlagen.
Doch als ich mit meiner leichten Last auf die letzte Mauer zuschritt, schwangen die Torflügel, die über Leben und Tod entschieden, weit auf, um mich durchzulassen. Eigentlich erwartete ich, den Kommandeur der Wache mit seinem rostigen Speer zu sehen, der mich sofort zurückschicken würde; statt dessen sah ich Galahad und Cavan, die mit gezogenen Schwertern und Kampfschilden am Arm auf der schwarzen Schwelle warteten. »Wir sind dir gefolgt«, erklärte Galahad.
»Bedwin hat uns geschickt«, ergänzte Cavan. Ich verbarg Nimues abstoßende Haare unter der Kapuze meines Mantels, damit meine Freunde nicht sahen, in welch entwürdigtem Zustand sie sich befand, und sie klammerte sich an mich, versuchte sich vor ihnen zu verstecken.
Galahad und Cavan hatten meine Männer mitgebracht, die die Fähre besetzt hatten und die Wächter der Insel auf dem anderen Ufer des Kanals mit ihren Speeren in Schach hielten.
»Heute wären wir dich suchen gegangen«, sagte Galahad und bekreuzigte sich, während er den Damm anstarrte. Er warf mir einen seltsamen Blick zu, als fürchtete er, ich wäre als anderer Mensch von der Insel zurückgekehrt.
»Ich hätte wissen müssen, daß du kommen würdest«, sagte ich zu ihm.
»Ja«, gab er zurück, »das hättest du.« In seinen Augen standen Tränen - Freudentränen.
Wir ruderten über den Kanal zurück, und ich trug Nimue die Straße der Schädel entlang bis zur Festhalle am Ende der Straße, wo ich auf einen Mann traf, der einen Karren mit Salz belud, das für Durnovaria bestimmt war. Behutsam bettete ich Nimue auf seine Fracht und folgte dem Karren auf seinem knarrenden Weg nordwärts bis in die Stadt. Ich hatte Nimue von der Toteninsel gerettet und sie in ein Land im Kriegszustand zurückgebracht.
Ich brachte Nimue auf Gyllads Hof. Nicht in die große Halle, sondern in eine verlassene Schäferhütte, wo wir beide allein sein konnten. Ich fütterte sie mit Fleischsuppe und Milch, aber vorher wusch ich sie, wusch jeden einzelnen Zoll ihres Körpers, wusch sie
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