Artus-Chroniken 1. Der Winterkönig
will ich sie aber«, antwortete sie und setzte sich mit so glückstrahlendem Gesicht in den Schatten der Blüten und Zweige, daß mein Herz einen seligen Sprung tat. Sie hatte die Augenklappe gefunden und eins von den Gewändern
angelegt, die Gyllads Mädchen ihr gebracht hatte; es war ein Sklavenkleid aus einfachem braunen Tuch, aber es stand ihr so gut, wie ihr fast alle schlichten Dinge standen. Sie war blaß
und mager, aber sie war sauber, und auf ihren Wangen lag sogar eine leichte Röte. »Ich weiß nicht, was aus dem goldenen Auge geworden ist«, gestand sie bedrückt und legte die Hand auf die neue Klappe.
»Ich habe ein neues in Auftrag gegeben«, erklärte ich ihr, verschwieg ihr jedoch, daß mich die Anzahlung für den Goldschmied meine letzten Münzen gekostet hatte. Ich brauche unbedingt ein bißchen Kampfbeute, sagte ich mir, um meine Börse wiederaufzufüllen.
»Und außerdem bin ich hungrig«, sagte Nimue mit einem Anflug ihres alten Mutwillens.
Ich legte ein paar Birkenzweige in die Pfanne, damit die Fleischsuppe nicht ansetzte, goß den Rest der Brühe hinein und stellte sie aufs Feuer. Sie aß alles. Anschließend streckte sie sich in ihrer Lugnasalaube aus und betrachtete den Bach. An einer Stelle, wo ein Otter unter Wasser schwamm, stiegen Blasen auf. Ich hatte ihn schon vorher gesehen, es war ein alter Kerl mit einem von den Narben vieler Kämpfe und Streifwunden durch Jagdspeere übersäten Fell. Nimue sah zu, wie seine Luftblasen hinter einer umgestürzten Weide verschwanden. Dann begann sie zu erzählen.
Sie hatte immer gern erzählt und zugehört, an jenem Abend aber war sie unersättlich. Sie wollte Neuigkeiten hören, und ich erzählte sie ihr, aber dann verlangte sie mehr Einzelheiten, und immer noch mehr Einzelheiten, und jede Einzelheit fügte sie wie besessen in ein Muster, das sie sich zurechtgelegt hatte, so daß die Ereignisse des vergangenen Jahres - zumindest für sie - ein großes Mosaik ergaben, auf dem ein einzelnes Steinchen zwar unwichtig erscheinen mochte, im Zusammenhang mit den anderen aber Teil eines
komplizierten, bedeutsamen Ganzen wurde. Ihr größtes Interesse galt Merlin und der Handschrift, die er aus Bans verlorener Bibliothek gerettet hatte. »Du hast sie nicht gelesen?« fragte sie mich.
»Nein.«
»Ich werde sie lesen«, erklärte sie energisch.
Ich zögerte einen Moment; dann sprach ich meine Gedanken aus. »Ich dachte, Merlin würde zur Insel gehen und dich holen«, sagte ich. Damit riskierte ich, sie doppelt zu kränken, erstens durch die angedeutete Kritik an Merlin und zweitens, indem ich das einzige Thema anschnitt, über das sie nicht reden wollte, die Toteninsel. Aber es schien sie nicht zu stören.
»Merlin wird sich wohl gedacht haben, daß ich mir selbst helfen kann«, erklärte sie. Dann lächelte sie. »Außerdem weiß
er, daß ich dich habe.«
Inzwischen war es dunkel geworden, und der Bach plätscherte silbern unter dem Lugnasamond dahin. Es gab ein ganzes Dutzend Fragen, die ich ihr gern gestellt hätte, aber nicht zu stellen wagte, plötzlich aber begann sie sie von selbst zu beantworten. Sie sprach von der Insel oder vielmehr davon, daß ein winziger Teil ihrer Seele sich der Schrecken dieser Insel immer bewußt gewesen sei, selbst als ihr übriges Ich sich in ihr Schicksal ergeben habe. »Ich habe gedacht, Wahnsinn wäre wie der Tod«, sagte sie, »und man würde nicht merken, daß es eine Alternative zum Wahnsinn gibt, aber man weiß es doch. Wirklich. Es ist, als beobachte man sich selbst, kann sich aber nicht selber helfen. Man gibt sich auf«, erklärte sie. Dann hielt sie inne, und ich entdeckte die Tränen in ihrem gesunden Auge.
»Hör auf«, sagte ich, denn auf einmal wollte ich es nicht mehr wissen.
»Und manchmal«, fuhr sie beharrlich fort, »saß ich auf meinem Felsen und betrachtete das Meer und wußte, daß ich nicht geisteskrank war, und ich fragte mich, welchem Zweck das alles diene, und dann wurde mir klar, daß ich wahnsinnig sein mußte, denn wenn ich es nicht wäre, hätte das Ganze seinen Zweck nicht erfüllt.«
»Es ergab keinen Sinn«, widersprach ich hitzig.
»Ach Derfel, mein lieber Derfel! Du hast einen Verstand wie ein Stein, der von der Klippe fällt.« Sie lächelte. »Als Merlin Caleddins Handschrift fand, hatte das denselben Sinn. Begreifst du denn nicht? Die Götter treiben ihre Spiele mit uns, aber wenn wir uns öffnen, werden wir Teil des Spiels statt seine Opfer. Der Wahnsinn erfüllt einen
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