Arztgeschichten
zu den Füßen gelangen zu wollen.«
Zur Kenntnis genommen.
»… das Ergreifen des oberen Fußes geradezu als ein Kunstfehler betrachtet werden muß, da dadurch leicht die … Axiale der Drehung des Kindes herbeigeführt wird, welche zu einer schweren Einkeilung der Frucht und dadurch zu den schlimmsten Folgen … Anlaß geben kann.«
»Zu den schlimmsten Folgen.« Etwas verschwommene, doch höchst eindringliche Worte! Und wenn nun der Mann dieser Frau aus Dulzewo Witwer wird? Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, riß mich mühsam zusammen und suchte mir, all die gräßlichen Stellen übergehend, bloß das Wesentliche einzuprägen: was ich eigentlich tun mußte, wie und wo die Hand einzuführen war. Aber wie ich so die schwarzen Zeilen überflog, stieß ich dauernd auf neue gräßliche Dinge. Sie sprangen mir in die Augen.
»… wegen der großen Gefahr der Uterusruptur …«
»Die innere und die kombinierte Wendungsoperation stellen dagegen Eingriffe dar, die den der Mutter gefährlichsten geburtshilflichen Operationen zuzuzählen sind.«
Und als Schlußakkord: »Mit jeder Stunde Verzögerung nach dem Blasensprung wächst die Gefahr.«
Genug! Die Lektüre trug ihre Früchte: In meinem Kopf herrschte Wirrwarr, und ich war überzeugt, rein gar nichts zu wissen, vor allem nicht, was für eine Wendung ich eigentlich vornehmen mußte, eine kombinierte, eine nichtkombinierte, eine direkte, eine indirekte!
Ich legte den Döderlein weg, setzte mich in den Sessel und bemühte mich, die auseinanderlaufenden Gedanken zu ordnen. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr. Verdammt! Schon zwölf Minuten vergangen. Und ich wurde dort erwartet.
»Mit jeder Stunde Verzögerung …«
Stunden setzen sich aus Minuten zusammen, und Minuten verfliegen in solchen Fällen rasend schnell. Ich legte also den Döderlein weg und lief zurück ins Krankenhaus.
Hier war schon alles bereit. Der Feldscher stand vor einem Tischchen und machte die Chloroformmaske zurecht. Die Kreißende lag auf dem Operationstisch. Ihr unausgesetztes Stöhnen drang durchs Krankenhaus.
»Geduld, Geduld«, murmelte Pelageja Iwanowna zärtlich, über die Frau gebeugt, »gleich hilft dir der Doktor.«
»Auuu! Keine Kraft … mehr … Ich hab keine Kraft mehr! Ich halt’s nicht aus!«
»Du hältst es aus«, murmelte die Hebamme, »bestimmt! Gleich geben wir dir was zu riechen, dann spürst du nichts!«
Rauschend schoß das Wasser aus dem Hahn, Anna Nikolajewna und ich wuschen uns die Arme bis zum Ellenbogen. Anna Nikolajewna erzählte mir unter dem Stöhnen und Heulen der Kreißenden, wie mein Vorgänger, ein erfahrener Chirurg, die Wendung gemacht hatte. Ich hörte ihr begierig zu, bemüht, mir kein Wort entgehen zu lassen. Diese zehn Minuten gaben mir mehr als alles, was ich zum Staatsexamen, das ich ausgerechnet in Geburtshilfe mit »sehr gut« abschloß, darüber gelesen hatte. Aus ihren abgerissenen Worten, unvollendeten Sätzen und flüchtig hingeworfenen Anspielungen erfuhr ich das Notwendige, was in keinem Buch steht. Als ich mir die ideal weißen und sauberen Arme mit sterilem Mull abtrocknete,
fühlte ich mich entschlossen und hatte einen festumrissenen Plan im Kopf. Kombiniert oder nicht kombiniert, darüber brauchte ich jetzt nicht nachzudenken.
All die gelehrten Wörter waren in diesem Moment nichts wert. Wichtig war eines: Ich mußte mit einer Hand hineingehen, mit der andern die Wendung von außen unterstützen und mich dabei nicht auf Bücher, sondern auf mein Gefühl verlassen, ohne das ein Arzt nichts taugt; ich mußte behutsam, doch beharrlich ein Beinchen abwärts ziehen und den Säugling daran extrahieren. Ich mußte ruhig und vorsichtig und zugleich entschlossen und mutig sein.
»Los«, befahl ich dem Feldscher und rieb mir die Finger mit Jod ab.
Sogleich legte Pelageja Iwanowna die Hände der Kreißenden übereinander, und der Feldscher senkte die Maske auf ihr zerquältes Gesicht. Langsam tropfte das Chloroform aus dem dunkelgelben Fläschchen. Ein süßlich-schwüler Geruch erfüllte das Zimmer. Die Gesichter des Feldschers und der Hebammen wurden ernst, gleichsam beseelt …
»Aaah! Aah!« schrie die Frau. Einige Sekunden lang wand sie sich krampfhaft, um die Maske abzuschütteln.
»Festhalten!«
Pelageja Iwanowna ergriff ihre Hände, hielt sie fest und drückte sie ihr an die Brust. Ein paarmal noch schrie die Frau auf und versuchte, das Gesicht von der Maske wegzudrehen. Aber seltener …
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