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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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als Lidkas Luftröhre. Diese hatte ich schon fast vergessen. Ringsum war alles verschneit, in die Sprechstunde kamen von Tag zu Tag mehr Patienten. Eines Tages, es war schon im neuen Jahr, trat eine Frau ins Sprechzimmer und führte ein kleines Mädchen an der Hand, so sehr eingemummt, daß es wie ein Prellstein aussah. Die Frau strahlte. Ich blickte genauer hin und erkannte das Kind.
    »Ah, Lidka! Na, wie geht’s?«
    »Gut.«
    Lidkas Hals wurde ausgewickelt. Sie war befangen und ängstlich, doch es gelang mir, ihr das Kinn hochzuheben und ihren rosigen Hals anzusehen. Er hatte eine bräunliche vertikale Narbe und zwei Quernarben von der Naht.
    »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Ihr braucht nicht mehr zu kommen.«
    »Ich danke Ihnen, Doktor, besten Dank«, sagte die Mutter, dann befahl sie Lidka: »Sag dem Onkel Dankeschön!«
    Aber Lidka wünschte nichts zu sagen.
    Ich habe sie nie wiedergesehen und vergaß sie allmählich. In meine Sprechstunde drängten immer mehr Patienten. Eines Tages waren es hundertzehn. Wir fingen morgens um neun an und machten um acht Uhr abends Schluß. Taumelnd zog ich den Kittel aus. Die ältere Hebamme, die auch Feldscherin war, sagte zu mir:
    »Diesen Andrang haben Sie dem Luftröhrenschnitt zu verdanken. Wissen Sie, was in den Dörfern geredet wird? Sie hätten der kranken Lidka statt der Luftröhre ein Stahlröhrchen eingesetzt und zugenäht. Manche fahren eigens in das Dorf, um das Kind zu sehen. Sie sind berühmt, Doktor, gratuliere.«

    »Sie lebt also mit der Stahlkehle?« fragte ich.
    »Jawohl. Und Sie sind sehr tüchtig, Doktor. Wie kaltblütig Sie das machen, eine Pracht!«
    »Tja … Wissen Sie, ich rege mich niemals auf«, sagte ich und wußte nicht, warum. Doch ich spürte, daß ich vor Müdigkeit nicht einmal mehr Scham empfinden konnte, ich wandte nur den Blick ab. Dann verabschiedete ich mich und ging in meine Wohnung. Dichter Schnee fiel und deckte alles zu, die Lampe brannte, und mein Haus war einsam, ruhig und bedeutungsvoll. Und wie ich so ging, wollte ich nur eines – schlafen.
     
    1925

Feuertaufe durch Wendung
    Die Tage im Krankenhaus N. gingen hin, und ich gewöhnte mich allmählich an mein neues Leben.
    In den Dörfern wurde noch immer Flachs gebrochen, die Straßen blieben unpassierbar, und in meine Sprechstunde kamen höchstens fünf Patienten. Die Abende waren gänzlich frei, und ich benutzte sie, um die Bibliothek zu sichten, chirurgische Fachbücher durchzuackern und am leise summenden Samowar lange und einsam Tee zu trinken.
    Ganze Tage und Nächte pladderte es ununterbrochen, die Regentropfen trommelten unaufhörlich aufs Dach, und unter meinem Fenster schoß das Wasser durch die Regenrinne in die Tonne. Nichts als Matsch, Nebel und schwarze Finsternis, durch die als trüb verschwommene Flecke die Fenster des Feldscherhäuschens und die Petroleumlaterne am Tor schimmerten. An einem dieser Abende saß ich in meinem Zimmer über einem Atlas topographischer Anatomie. Es war völlig still, nur ab und zu hörte ich im Eßzimmer die Mäuse hinterm Büfett knabbern.
    Ich las, bis mir die schwer gewordenen Lider zufielen. Endlich stellte ich gähnend den Atlas weg. Mich reckend und im vorhinein den friedlichen Schlaf auskostend, ging ich unter dem Trommeln des Regens in mein Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich hin.
    Noch hatte mein Kopf nicht das Kissen berührt, als in dem schläfrigen Nebel das Gesicht der siebzehnjährigen Anna Prochorowa aus dem Dorf Toropowo vor mir auftauchte. Ein Zahn mußte ihr gezogen werden. Lautlos schwebte der Feldscher Demjan Lukitsch mit der glänzenden Zange in der Hand vorüber. Mir fiel ein, daß er »ein solcher« statt »so einer« sagte, aus Vorliebe für den gehobenen Stil, und ich schlief lachend ein.
    Jedoch höchstens eine halbe Stunde später wurde ich plötzlich munter, als habe mich jemand wachgerüttelt, ich
setzte mich hoch, starrte erschrocken in die Dunkelheit und horchte.
    Laut und hartnäckig hämmerte jemand gegen die Außentür, und diese Schläge erschienen mir sogleich unheildrohend.
    Dann klopfte es an der Wohnungstür.
    Das Klopfen verstummte, der Riegel klirrte, ich hörte die Stimme der Köchin, eine undeutliche Stimme antwortete, dann kam jemand die knarrende Treppe hoch, schritt leise durchs Arbeitszimmer und klopfte an meine Schlafzimmertür.
    »Wer ist da?«
    »Ich bin’s«, antwortete mir ein respektvolles Flüstern, »ich, Axinia, die Nachtschwester.«
    »Was gibt’s?«
    »Anna

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