Arztgeschichten
Sprechstunde. Ich aß nicht mehr zu Mittag. Die Arithmetik ist eine grausame Wissenschaft. Angenommen, ich widme jedem meiner hundert Patienten nur fünf Minuten … fünf! Das sind fünfhundert Minuten, acht Stunden und zwanzig Minuten. Wohlgemerkt, hintereinander weg. Außerdem hatte ich eine Station mit dreißig Kranken. Außerdem operierte ich.
Kurz und gut, wenn ich abends um neun aus dem Krankenhaus in meine Wohnung kam, mochte ich nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Ich wollte nur, daß keiner kam und mich zu einer Entbindung rief.
In zwei Wochen wurde ich fünfmal in der Nacht mit dem Schlitten abgeholt.
Dunkle Feuchtigkeit trat mir in die Augen, über der Nasenwurzel bildete sich eine wurmartige senkrechte Falte. Nachts sah ich durch Nebelschleier mißglückte Operationen,
freigelegte Rippen, meine mit Menschenblut besudelten Arme, und ich wachte auf, schweißig und fröstelnd trotz des heißen Kachelofens.
Bei der Visite ging ich mit schnellen Schritten und wirbelte den Feldscher, die Feldscherin und zwei Schwestern hinter mir her. Wenn ich bei einem Bett stehenblieb, in dem ein vor Fieber vergehender und kläglich atmender Kranker lag, quetschte ich alles aus meinem Gehirn heraus, was darin war. Meine Finger tasteten über trockene, glühende Haut, ich blickte in Pupillen, klopfte Rippen ab, hörte in der Tiefe geheimnisvoll das Herz schlagen und hatte nur den einen Gedanken – wie kann ich ihn retten? Und den da? Und den! Alle!
Es war ein Kampf. Er begann allmorgendlich im bleichen Licht des Schnees und endete im gelben Schein der hellen Operationslampe.
Wenn ich bloß wüßte, wie das enden soll, sagte ich nachts zu mir selber. So geht es doch weiter, die Schlitten werden im Januar kommen und auch im Februar und im März.
Ich schrieb nach Gratschowka und erinnerte höflich daran, daß das Revier N. auf einen zweiten Arzt Anspruch habe.
Der Brief fuhr mit einem Bauernschlitten durch den ebenen Schneeozean vierzig Werst weit. Drei Tage später traf die Antwort ein: Ja, gewiß, gewiß … Unbedingt … nur nicht jetzt … Einstweilen komme niemand …
Der Brief schloß mit ein paar anerkennenden Worten über meine Arbeit und mit besten Wünschen für weitere Erfolge.
Solchermaßen beflügelt, tamponierte ich, injizierte Diphtherieserum, öffnete riesige Eiterbeulen, legte Gipsverbände an …
Am Dienstag kamen nicht hundert, sondern hundertelf Patienten. Die Sprechstunde war erst abends um neun zu Ende. Im Einschlafen versuchte ich zu raten, wie viele es am morgigen Mittwoch sein würden. Ich träumte, es würden neunhundert kommen.
Der Morgen schaute besonders weiß zum Schlafzimmerfenster herein. Ich öffnete die Augen, ahnungslos, was mich geweckt hatte. Ach ja – es hatte geklopft.
»Doktor«, rief die Hebamme Pelageja Iwanowna, »sind Sie wach?«
»Jaha«, antwortete ich mit schlaftrunken zerknautschter Stimme.
»Ich wollte Ihnen bloß sagen, Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Sind bloß zwei Patienten da.«
»Wollen Sie mich veralbern?«
»Ehrenwort. Wir haben Schneesturm, Doktor, Schneesturm«, rief sie freudig durchs Schlüsselloch. »Beide haben kariöse Zähne. Demjan Lukitsch zieht sie ihnen.«
»Das ist ja …« Ich sprang aus dem Bett und wußte nicht, warum.
Der Tag ließ sich herrlich an. Nach der Visite wanderte ich durch meine Räume (der Arzt hatte hier sechs Zimmer in zwei Etagen – drei oben, Küche und zwei Zimmer unten), pfiff Opernmelodien, rauchte, trommelte an die Fensterscheiben. Vor dem Fenster vollzog sich etwas, was ich noch nie gesehen hatte. Himmel und Erde gab es nicht mehr. Kreuz und quer wirbelte und stöberte es weiß durcheinander, hinauf und hinunter, als streute der Teufel Zahnpulver umher.
Mittags beauftragte ich Axinia, die in der Arztwohnung die Pflichten der Köchin und Reinemachefrau versah, in drei Eimern und im Kessel Wasser heiß zu machen. Ich hatte einen Monat nicht gebadet.
Mit ihrer Hilfe schleppte ich einen riesigen Bottich aus dem Lagerraum. Er wurde in der Küche auf den Fußboden gestellt. (Von Badewannen konnte in N. natürlich keine Rede sein; nur im Krankenhaus gab es welche, und die taugten nichts.)
Gegen zwei Uhr nachmittags wurde das wirbelnde Netz vor dem Fenster großmaschiger. Nackt und mit eingeseiftem Kopf saß ich in dem Bottich.
»Das gefällt uns«, murmelte ich wohlig und plätscherte mir heißes Wasser auf den Rücken. »Das gefällt uns! Wissen
Sie, anschließend speisen wir zu Mittag und
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