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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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die Magensonde weg. Es roch nach Kampferöl. Die Schüssel am Fußboden war voll mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Bleich und entkräftet lag der Müller da, bis zum Kinn mit einem weißen Laken bedeckt. Der rote Bart ragte aufwärts. Ich beugte mich über ihn, fühlte ihm den Puls und überzeugte mich, daß er mit einem blauen Auge davongekommen war.
    »Na, wie fühlen wir uns?« fragte ich.
    »Vor meinen Augen herrscht ägyptische Finsternis … Oh, oh«, antwortete der Müller mit schwachem Baß.
    »Vor meinen auch!« sagte ich gereizt.
    »Hä?« machte der Müller (er hörte noch schlecht).
    »Erklär mir bloß das eine, Onkel, warum hast du das gemacht?« schrie ich ihm ins Ohr.
    Unwirsch und feindselig gab der Baß zur Antwort:
    »Na ja, ich dachte, dann brauchen Sie bei mir nicht mit den einzelnen Pülverchen herumzutrödeln. Nimmst sie auf einmal, dann ist Schluß.«
    »Ungeheuerlich!« rief ich aus.
    »Wieder ein Witz!« giftete der Feldscher unbeherrscht.
     
    Doch, ich werde kämpfen. Ich werde … Ich … Nach der schweren Nacht hüllte mich süßer Schlaf ein. Wie ein
Schleier zog sich die ägyptische Finsternis in die Länge … mittendrin ich … in der Hand ein Schwert, oder ist es ein Stethoskop? Ich gehe … ich kämpfe … In der Einöde. Aber nicht allein. Da kommt meine Streitmacht: Demjan Lukitsch, Anna Nikolajewna, Pelageja Iwanowna. Alle im weißen Kittel, immer vorwärts, vorwärts …
    Der Schlaf ist eine gute Sache!
     
    1926

Das verschwundene Auge
    Ein Jahr ist nun also vergangen. Genau ein Jahr, seit ich in dieses Haus gekommen bin. Genau wie jetzt hing damals vor den Fenstern ein Regenschleier, genauso wehmütig baumelten die letzten gelben Blätter an den Birken. Nichts scheint sich ringsum verändert zu haben. Nur ich habe mich sehr verändert. Ich werde in gänzlicher Einsamkeit einen Erinnerungsabend verbringen …
    Über die knarrenden Dielen gehe ich in mein Schlafzimmer und blicke in den Spiegel. Ja, der Unterschied ist groß. Vor einem Jahr hat mir aus dem Spiegel, den ich dem Koffer entnommen, ein glattrasiertes Gesicht entgegengesehen. Ein schräger Scheitel hat das dreiundzwanzigjährige Haupt geschmückt. Jetzt ist der Scheitel verschwunden. Die Haare sind anspruchslos nach hinten gekämmt. Mit einem Scheitel kann ich dreißig Werst von der Eisenbahn entfernt niemanden beeindrucken. Das gleiche gilt für die Rasur. Auf der Oberlippe hat sich ein Streifen eingenistet, wie eine harte vergilbte Zahnbürste anzuschauen, die Wangen sind wie Reibeisen, und es ist angenehm, den Oberarm daran zu scheuern, wenn er während der Arbeit juckt. So ist das, wenn man sich nicht dreimal, sondern bloß einmal in der Woche rasiert.
    Da habe ich mal, ich weiß nicht mehr wo, von einem Engländer gelesen, der auf eine unbewohnte Insel verschlagen wurde. Es war ein interessanter Engländer. Er hockte auf seiner Insel, bis er Halluzinationen bekam. Und als sich ein Schiff der Insel näherte und ein Boot mit Rettern zu Wasser ließ, empfing sie der Einsiedler mit Revolverschüssen, denn er hielt sie für ein Trugbild, für eine Fata Morgana auf der Wasserwüste. Aber er war glattrasiert. Er hatte sich auf der unbewohnten Insel jeden Tag rasiert. Ich weiß noch, welche Hochachtung mir dieser stolze Sohn Britanniens abnötigte. Und als ich hierherfuhr,
hatte ich im Koffer einen Rasierapparat »Gillette« und dazu ein Dutzend Klingen, außerdem Rasiermesser und Pinsel. Und ich war fest entschlossen, mich alle zwei Tage zu rasieren, denn die Gegend hier unterschied sich in nichts von einer unbewohnten Insel.
    Eines Tages, es war im hellen April, hatte ich alle diese englischen Prachtgeräte in einem schrägen Sonnenstrahl vor mir ausgebreitet und soeben die rechte Wange auf Hochglanz gebracht, als Jegorytsch in zerrissenem Schuhwerk bei mir hereinstampfte wie ein Gaul und meldete, im Naturschutzgebiet am Ufergebüsch finde eine Entbindung statt. Ich weiß noch, wie ich mir mit dem Handtuch die linke Wange abwischte und mit Jegorytsch hinausstürmte. Zu dritt liefen wir zum Fluß, der trüb und angeschwollen zwischen kahlen Weidengruppen hindurchströmte  – die Hebamme mit Gefäßklemmen, Mullbündel und Jodfläschchen, ich mit weit aufgerissenen irren Augen und hinterher Jegorytsch. Alle fünf Schritt hockte er sich hin und zerrte fluchend an seinem linken Schuh, von dem die Sohle abging. Wind blies uns entgegen, der herrliche wilde Wind des russischen Frühlings. Die Hebamme Pelageja

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