Arztgeschichten
Iwanowna hatte den Kamm aus den Haaren verloren, die ihr nun, vom Wind zerzaust, aufgelöst um die Schultern flatterten.
»Warum zum Teufel versäufst du dein ganzes Geld?« knurrte ich im Laufen Jegorytsch an. »Schweinerei. Bist Krankenhauswächter und läufst rum wie ein Landstreicher.«
»Was denn für Geld«, fauchte Jegorytsch zurück, »für lumpige fünfundzwanzig Rubel im Monat muß ich Märtyrerqualen ausstehen. Ach, ver fluchter Schuh!« Er stampfte auf wie ein wütender Traber. »Das Geld reicht nicht mal zum Sattwerden, geschweige denn für Schuhe …«
»Trinken ist doch für dich die Hauptsache«, zischte ich keuchend, »darum läufst du so zerlumpt rum …«
Von dem morschen Brücklein her flog ein dünner kläglicher Schrei über das Hochwasser hinweg und erlosch.
Wir eilten hinzu und erblickten eine zerzauste, zusammengekrümmte Frau. Das Tuch war ihr heruntergerutscht, die Haare klebten an der schweißigen Stirn, qualvoll rollte sie die Augen und krallte die Fingernägel in ihren Schafpelz. Hellrotes Blut befleckte das erste spärliche blaßgrüne Gras, das aus der fetten, wassergetränkten Erde sproß.
»Sie hat’s nicht geschafft, nicht geschafft«, sagte hastig Pelageja Iwanowna und wickelte, mit ihren flatternden Haaren einer Hexe ähnlich, ihr Bündel aus.
Und hier, unter dem lustigen Rauschen des Wassers, das die dunklen Brückenbohlen überspülte, holten Pelageja Iwanowna und ich einen Säugling männlichen Geschlechts. Er lebte, und wir brachten auch die Mutter durch. Dann schafften zwei Schwestern und Jegorytsch die Mutter auf einer Trage ins Krankenhaus, letzterer links barfuß, denn er hatte endlich die verhaßte mürbe Sohle abgerissen.
Als sie still und bleich im Bett lag und mit einem Laken zugedeckt war, als der Säugling in der Wiege neben ihr schlief und alles seine Ordnung hatte, fragte ich sie:
»Konntest du dir keinen besseren Platz für die Entbindung aussuchen als bei der Brücke, Mutter? Warum bist du denn nicht mit dem Pferd gekommen?«
»Der Schwiegervater hat’s nicht rausgerückt«, antwortete sie. »Sind ja bloß fünf Werst, hat er gesagt, das schaffst du schon. Bist ja ein gesundes Weib. Was sollen wir das Pferd umsonst abjagen …«
»Ein Dummkopf ist dein Schwiegervater und ein Schuft«, antwortete ich.
»Ach, was ist doch das Volk unwissend«, fügte Pelageja Iwanowna mitleidig hinzu, dann kicherte sie.
Ich wurde gewahr, daß sie meine linke Wange ansah.
Ich ging hinaus und blickte im Entbindungsraum in den Spiegel. Der Spiegel zeigte, was er immer zeigte: ein schiefes Gesicht von eindeutig degeneriertem Typ mit gleichsam angeschlagenem rechtem Auge. Aber – und daran war nicht der Spiegel schuld – die rechte Wange war glatt wie
ein Tanzparkett, auf der linken hingegen wucherte dichtes rötliches Gestrüpp. Das Kinn markierte die Grenze. Ein gelb eingebundenes Buch mit der Aufschrift »Sachalin« kam mir in den Sinn. Es enthielt Fotos verschiedener Männer.
Mord, Einbruch, blutige Axt, dachte ich, zehn Jahre … Was habe ich doch für ein originelles Leben auf meiner unbewohnten Insel. Ich muß mich fertig rasieren …
Die von den schwarzen Feldern herüberwehende Aprilluft atmend, dem Krähengekrächz in den Birkenwipfeln lauschend und in die erste Sonne blinzelnd, ging ich über den Hof, um mich fertig zu rasieren. Das war gegen drei Uhr nachmittags. Fertig rasiert war ich um neun Uhr abends. Mir ist aufgefallen, daß in Murjewo Überraschungen wie die Entbindung im Gebüsch niemals allein kommen. Kaum hatte ich meine Haustürklinke niedergedrückt, da zeigte sich im Tor ein Pferdemaul, der schmutzstarrende Wagen wurde heftig gerüttelt. Auf dem Kutschbock saß eine Frau, sie rief mit dünner Stimme: »Halt, du Satan!«
Von meiner Vortreppe aus hörte ich einen eingemummten kleinen Jungen wimmern.
Natürlich hatte er ein gebrochenes Bein, und ich hatte mit dem Feldscher zwei Stunden lang zu tun, es einzugipsen, wobei der Junge zwei Stunden lang heulte. Dann mußte ich Mittag essen, dann war ich zu faul zum Rasieren und wollte ein bißchen schmökern, doch schon schlich die Dämmerung heran, die Ferne verschwamm, und unter kläglichen Grimassen rasierte ich mich fertig. Da aber der gezahnte Gillette-Apparat vergessen im Seifenwasser gelegen hatte, blieb auf ihm für immer ein Roststreifen zurück als Andenken an die Frühlingsgeburt bei der Brücke.
Ja, zweimal in der Woche rasieren hat keinen Zweck. Manchmal waren wir gänzlich
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