Arztgeschichten
Augen, und die Backenknochen liefen rosig an. »Und wenn es doch noch kommt?«
»Ich versteh das selber nicht«, sagte ich halblaut zu Pelageja Iwanowna. »Nach dem, was sie erzählt hat, müßte sie sich angesteckt haben, aber sie hat nichts.«
»Sie hat nichts«, echote Pelageja Iwanowna. Wir flüsterten noch ein Weilchen über verschiedene Fristen und intime Dinge, und die Frau bekam von mir den Auftrag, wieder ins Krankenhaus zu kommen.
Ich sah sie an und erkannte, daß sie in zwei Teile zerbrochen war. Hoffnung hatte sich in sie eingeschlichen und war gleich wieder gestorben. Sie schluchzte noch einmal und ging wie ein dunkler Schatten. Von nun an hing ein Schwert über ihr. Jeden Sonnabend erschien sie lautlos bei mir im Ambulatorium. Sie war sehr abgemagert, die Backenknochen traten schärfer hervor, die Augen waren eingesunken und von Schatten umrahmt. Konzentriertes Nachdenken hatte ihre Mundwinkel nach unten gezogen. Mit einer gewohnten Bewegung nahm sie das Tuch ab, dann gingen wir ins Untersuchungszimmer, wo wir sie zu zweit untersuchten. An den ersten drei Sonnabenden konnten wir an ihr nichts finden. Sie war ein wenig erleichtert. Lebendiger Glanz lag in ihren Augen, das Gesicht wurde lebendig, die Starre löste sich. Unsere Chancen wuchsen. Die Gefahr schwand dahin. Am vierten Sonnabend war ich meiner Sache schon sicher. Für den glücklichen Ausgang sprachen neunzig Prozent. Die einundzwanzigtägige Inkubationszeit war vorüber. Es blieb ein Rest von Wahrscheinlichkeit, daß sich der Primäraffekt mit großer Verspätung einstellte. Doch endlich war auch diese Zeit vorüber. Eines Tages warf ich den blanken Spiegel in die Schale, befühlte ein letztes Mal ihre Drüsen und sagte zu ihr:
»Sie sind außer Gefahr. Sie brauchen nicht mehr zu kommen.«
»Es kann nichts mehr sein?« fragte sie mit unvergeßlicher Stimme.
»Nein, nichts.«
Ich bin unfähig, ihr Gesicht zu beschreiben. Ich erinnere mich nur, wie sie sich tief verbeugte und verschwand.
Sie kam übrigens noch einmal wieder. Mit einem Bündel in der Hand – zwei Pfund Butter und zwei Dutzend Eier. Nach einem schrecklichen Kampf nahm ich beides nicht an. Und war sehr stolz darauf, wegen meiner Jugend. Später jedoch, als ich in den Revolutionsjahren hungern mußte, dachte ich noch so manches Mal an die Petroleumlampe, die schwarzen Augen und das goldene Stück Butter mit den Fingereindrücken und dem perlenden Tau.
Wie kommt es, daß ich nach so vielen Jahren noch an die Frau denken muß, die zu vier Monaten Angst verurteilt war? Nicht von ungefähr. Die Frau war meine zweite Patientin auf diesem Gebiet, dem ich späterhin meine besten Jahre widmete. Der erste war der Mann mit dem sternbildartigen Ausschlag gewesen. Also, sie war die zweite und die einzige Ausnahme, denn sie hatte Angst gehabt. Die einzige in meiner Erinnerung, welche die von der Petroleumlampe beleuchtete Arbeit von uns vieren bewahrte (Pelageja Iwanowna, Anna Nikolajewna, Demjan Lukitsch und mir).
In der Zeit, in der ihre quälenden Sonnabende verstrichen, suchte ich wie in Erwartung der Todesstrafe nach »ihr«. Die Herbstabende sind lang. Die Kachelöfen in der Arztwohnung waren heiß. Stille herrschte, und ich hatte das Gefühl, auf der ganzen Welt mit meiner Lampe allein zu sein. Irgendwo brodelte stürmisches Leben, doch vor meinen Fenstern peitschte, prasselte ein schräger Regen, der allmählich zu lautlosem Schnee wurde. Ich saß stundenlang und las in den Ambulatoriumsbüchern der letzten fünf Jahre. Tausende und Zehntausende von Namen und Dörfern zogen an mir vorüber. In diesen Kolonnen von
Menschen suchte ich nach ihr und fand sie oft. Schriftzüge huschten vorüber, langweilig, schablonenhaft: »Bronchitis«, »Laryngitis«, andere … Aber da! »Lues 3«. Aha … Daneben in schwungvoller Schrift von geübter Hand:
»Rp. Ung. hydrarg. ciner. 3,0 D. t. d.«
Da war sie, die »schwarze« Salbe.
Wieder tanzten vor meinen Augen Bronchitis und Katarrhe, plötzlich erneut unterbrochen von »Lues«.
Die meisten Eintragungen lauteten auf »Lues 2«. Das dritte Stadium kam seltener vor. Dann stand in der Spalte »Behandlung« schwungvoll »Jodkalium«.
Je länger ich in den alten, schimmelig riechenden, auf dem Dachboden vergessenen Folianten des Ambulatoriums las, desto heller wurde es in meinem unerfahrenen Kopf. Ungeheuerliches ging mir auf.
Warum, bitte schön, fand ich nirgendwo Eintragungen über einen Primäraffekt? Es gab keine. Auf
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