Arztgeschichten
Tausende und aber Tausende Namen höchstens mal eine. Syphilis im zweiten Stadium gab es in endlosen Reihen. Was bedeutete das? Es bedeutete folgendes:
»Das bedeutet«, sagte ich im Schatten zu mir selbst und zu der Maus, die im Bücherregal des Schranks an alten Einbänden knusperte, »das bedeutet, daß sie hier keine Ahnung von der Syphilis haben und der Primäraffekt sie nicht erschreckt. Jawohl. Der verheilt ja dann. Eine Narbe bleibt … Soso, und sonst nichts? Nein, sonst nichts! Und so entwickelt sich stürmisch das Sekundärstadium der Syphilis. Wenn der Hals weh tut und sich auf dem Körper nässende Knötchen zeigen, fährt er ins Krankenhaus, Semjon Chotow, zweiunddreißig Jahre alt, und sie geben ihm die graue Salbe. Aha!«
Der Lichtkreis lag auf dem Tisch, und die schokoladenbraune Frau im Aschbecher verschwand unter einem Berg Kippen.
»Ich muß diesen Semjon Chotow finden. Hm …«
Die gelb angehauchten Krankenblätter raschelten. Am 17. Juni 1916 hatte Semjon Chotow sechs Päckchen Quecksilbersalbe
bekommen, die vor langer Zeit zu seiner Rettung erfunden worden war. Ich wußte, daß mein Vorgänger zu Semjon gesagt hatte, als er ihm die Salbe gab:
»Semjon, wenn du die Einreibungen gemacht hast, wäschst du dich und kommst wieder. Hörst du, Semjon?«
Semjon verbeugte sich natürlich und dankte mit heiserer Stimme. Sehen wir mal nach: So zehn oder zwölf Tage danach müßte Semjon wieder im Buch stehen. Schauen wir, schauen wir … Qualm, die Blätter rascheln. Doch nein, kein Semjon! Nicht nach zehn Tagen und nicht nach zwanzig, überhaupt nicht mehr. Ach, armer Semjon Chotow! Also war der marmorartige Ausschlag verschwunden, so wie die Sterne gegen Morgen verschwinden, und die Kondylome waren abgetrocknet. Sterben mußte Semjon, wirklich, sterben. Vielleicht sehe ich diesen Semjon noch mit Gummiknoten in meiner Sprechstunde. Ob sein Nasenbein noch heil ist? Ob seine Pupillen noch gleich sind? Armer Semjon!
Aber da, nicht Semjon, sondern Iwan Karpow. Kein Wunder. Warum sollte Iwan Karpow nicht erkranken? Ja, aber Moment mal, warum wurde ihm das Kalomel mit Milchzucker in kleiner Dosis verschrieben? Darum: Iwan Karpow war zwei Jahre alt! Und hatte »Lues 2«! Die verhängnisvolle Zwei! Von Sternen übersät, war er hergebracht worden. Auf den Armen der Mutter wehrte er sich strampelnd gegen die zugreifenden Hände des Arztes. Alles klar.
Ich weiß, ich errate, ich habe begriffen, wo der zweijährige Junge den Primäraffekt hatte, ohne den es kein zweites Stadium gibt. Im Mund! Er hatte sich am Löffelchen infiziert. Hilf mir, Einöde! Hilf mir, Stille des dörflichen Hauses! Ja, viel Interessantes kann ein altes Patientenbuch einem jungen Arzt erzählen.
Über Iwan Karpow stand:
»Awdotj a Karpowa, dreißig Jahre.«
Wer ist sie? Ach so. Sie ist Iwans Mutter. In ihren Armen hat er geweint.
Unter Iwan Karpow stand:
»Awdotja Karpowa, acht Jahre.«
»Und wer ist das? Die Schwester! Kalomel …«
Die Familie ist beisammen. Eine Familie. Es fehlt nur einer, Karpow, fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt. Und man weiß nicht, wie er gerufen wird – Sidor, Pjotr … Oh, das ist unwichtig.
» … teure Gattin … böse Krankheit Syphil …«
Da ist das Dokument. Im Kopf wird es hell. Ja, sicherlich ist er von der verdammten Front gekommen und hat sich »nicht entdeckt«, hat vielleicht nicht einmal gewußt, daß er sich hätte entdecken müssen. Ist wieder abgereist. Und hier ging es los. Nach Awdotja Maria, nach Maria Iwan. Die gemeinsame Schüssel mit Kohlsuppe, das Handtuch …
Und noch eine Familie. Und noch eine. Da, ein alter Mann, siebzig Jahre. »Lues 2«. Ein alter Mann. Was hast du dir zuschulden kommen lassen? Nichts. Die gemeinsame Schüssel! Asexuell, asexuell. Das Licht ist hell. Hell und weißlich, ein früher Dezembermorgen. Also habe ich meine ganze einsame Nacht über den Eintragungen und den großartigen deutschen Fachbüchern mit den bunten Bildern versessen.
Gähnend ging ich ins Schlafzimmer und murmelte:
»Ich werde mir ›ihr‹ kämpfen.«
Um mit ihr zu kämpfen, muß man sie sehen. Sie zögerte nicht. Die Schlittenwege waren schon fest, und es kam vor, daß täglich hundert Menschen meine Sprechstunde besuchten. Der Tag fing trübweiß an und endete mit der schwarzen Finsternis vor den Fenstern, in der geheimnisvoll, mit leisem Knirschen die letzten Schlitten verschwanden.
Sie zeigte sich mir vielfältig und hinterlistig. Mal als weißlicher
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