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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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wieder in seine Windeln.
    Vor meinen Augen lag die Uhr auf dem Tisch. Ich erinnere mich, daß ich nicht länger als drei Minuten sprach, da brach das Weib in Schluchzen aus. Ich war sehr froh über ihre Tränen, denn nur sie, ausgelöst durch meine absichtlich harten und verängstigenden Worte, machten das weitere Gespräch möglich.
    »Also, ihr bleibt alle hier. Demjan Lukitsch, Sie bringen sie im hinteren Gebäude unter. Die Typhuskranken versorgen wir im zweiten Saal. Morgen fahre ich in die Stadt und hole mir die Erlaubnis, eine stationäre Syphilitikerabteilung einzurichten.«
    In den Augen des Feldschers blitzte lebhaftes Interesse.
    »Ich bitte Sie, Doktor!« erwiderte der große Skeptiker. »Wie sollen wir allein damit fertig werden? Und die Präparate? Wir haben auch nicht genug Pflegerinnen. Wer macht das Essen? Und das Geschirr, die Spritzen?«
    Aber ich schüttelte stumpf, hartnäckig den Kopf und sagte: »Ich setze es durch.«
     
    Ein Monat verging …

    In drei Zimmern des verschneiten hinteren Gebäudes brannten Lampen mit Blechschirm. Die Bettwäsche war zerrissen. Ich hatte nur zwei Spritzen, eine kleine Eingramm-und eine Fünfgrammspritze. Kurz und gut, es herrschte eine klägliche, schneeverwehte Armut. Aber … Da lag stolz, für sich, die Spritze, mit der ich, vor Angst vergehend, schon mehrmals die für mich neuen, noch rätselhaften und schwierigen Salvarsan-Injektionen vorgenommen hatte.
    Überdies war ich innerlich bedeutend ruhiger. In dem Gebäude lagen sieben Männer und fünf Frauen, und mit jedem Tag schwand vor meinen Augen der sternbildartige Ausschlag.
    Es war Abend. Demjan Lukitsch hielt die kleine Lampe und beleuchtete den schüchternen Wanka. Sein Mund war mit Grießbrei verschmiert. Aber er hatte keine Sterne mehr. Alle vier gingen an dem Lämpchen vorbei und schmeichelten meinem Gewissen.
    »Morgen will ich raus«, sagte die Mutter und knöpfte ihre Bluse zu.
    »Nein, das geht noch nicht«, antwortete ich, »du mußt die Injektionsreihe durchhalten.«
    »Ich bin nicht einverstanden«, antwortete sie, »zu Haus hab ich alle Hände voll zu tun. Für die Hilfe meinen Dank, aber morgen entlassen Sie uns. Wir sind schon gesund.«
    Das Gespräch flammte auf wie ein Lagerfeuer und endete so:
    »Du … damit du’s weißt«, sagte ich und spürte, wie ich rot anlief, »damit du’s weißt, du bist eine dumme Gans!«
    »Was schimpfst du so? Was ist das für eine Art zu schimpfen?«
    »Genügt es etwa, dich ›dumme Gans‹ zu schimpfen? Du bist keine dumme Gans, sondern … sondern … Sieh dir doch Wanka an! Wieso willst du ihn zugrunde richten? Das erlaube ich dir nicht!«
    Sie blieb noch zehn Tage.
    Zehn Tage. Länger hätte niemand sie halten können. Das garantiere ich Ihnen. Aber glauben Sie mir, mein
Gewissen war ruhig, und sogar die »dumme Gans« machte mir keine Sorgen. Ich bereue es nicht. Was war mein Schimpfen gegen den sternbildartigen Ausschlag!
     
    Also, seitdem sind Jahre vergangen. Das Schicksal und die stürmischen Jahre haben mich längst von dem schneeverwehten Ambulatorium getrennt. Was und wer mag jetzt dort sein? Ich glaube, es ist besser als damals. Das Gebäude ist vielleicht geweißt und die Wäsche neu. Strom gibt es natürlich nicht. Möglicherweise beugt sich jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ein junger Kopfüber die Brust eines Patienten. Die Petroleumlampe wirft ihr gelbliches Licht auf die gelbliche Haut …
    Grüß dich, Collega!
     
    1926

Morphium
    1 Kluge Leute haben längst herausgefunden, daß es mit dem Glück so ist wie mit der Gesundheit: Wenn man es hat, bemerkt man es nicht. Aber die Jahre vergehen, und dann erinnert man sich an das Glück, oh, wie man sich erinnert!
    Was mich betrifft, so war ich, wie sich jetzt gezeigt hat, im Winter des Jahres 1917 glücklich. Unvergeßliches, stürmisches, rasend schnelles Jahr!
    Der losgebrochene Sturm erfaßte mich wie einen Fetzen Zeitungspapier und wehte mich von meinem gottverlassenen Arztrevier in die Kreisstadt. Was ist das schon, eine Kreisstadt, wird man denken. Wer aber wie ich anderthalb Jahre lang festgesessen hat, winters im Schnee, sommers in den rauhen und kargen Wäldern, ohne auch nur für einen einzigen Tag wegzukommen, wer wie ich das Streifband von der Zeitung der letzten Woche mit einem Herzklopfen aufgerissen hat wie ein glücklicher Liebhaber einen hellblauen Briefumschlag, wer wie ich achtzehn Werst im Schlitten mit hintereinandergespannten Pferden zu einer Entbindung

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