Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals (German Edition)
für Muriel
Nachdem Muriel Ascalon fertig geputzt hatte, besorgte sie einen Heuballen und eine große Portion der Getreide-Kraftfutter-Mischung, die ihre Mutter nach den Angaben von Madame de Chevalier für ihn zusammengestellt hatte. Während er fraß, blieb sie in seiner Nähe.
Am späten Nachmittag wagte sie dann den nächsten Schritt.
Ascalon hatte viel zu lange in der Box gestanden und brauchte dringend Bewegung. Da ihre Mutter es noch nicht erlaubte, ihn aus dem Stall zu lassen, entschied sich Muriel, ihn in der kleinen Halle zu longieren, die unmittelbar an den Patientenstall grenzte.
Und auch dabei verhielt sich Ascalon vorbildlich.
Auf Zuruf wechselte er augenblicklich die Gangart; trabte, galoppierte und lief die Zirkel, ohne dass Muriel eingreifen musste. Der lange, buschige Schweif und die sorgfältig gekämmte Prachtmähne wallten im Takt der Schritte, während er sich kraftvoll im Kreis bewegte.
»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würde es nicht glauben.« Renata Vollmer, die ihre Tochter nun schon eine halbe Stunde beim Longieren beobachtete, war begeistert. »Ascalon ist wie ausgewechselt. Es ist unglaublich!«
»Das sieht aber toll aus!«, ertönte in diesem Augenblick Viviens Stimme aus der hinteren Ecke des Stalls. »Wie ein richtiges Zirkuspferd.«
»Vivien!« Renata Vollmer drehte sich um und schaute ihre jüngste Tochter erbost an. »Wer hat dir erlaubt hier reinzukommen?«
»Niemand!« Vivien setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging an der Wand entlang auf ihre Mutter zu. »Im Haus ist es sooo langweilig«, sagte sie mit perfekt einstudierter Unschuldsmiene und fügte hinzu: »Bitte, Mama, darf ich Muriel zusehen? Ich bin auch ganz leise.«
»Also gut.« Renata Vollmer seufzte und deutete neben sich. »Du kannst dich hier auf den Strohballen setzen. Aber keinen Mucks, hörst du?«
Vivien nickte ernst und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Versprochen«, flüsterte sie.
Das Versprechen hielt sie ungefähr fünf Minuten.
»Immer nur Trab ist doof!«, sagte sie so laut, dass Muriel es hören musste. »Kannst du ihn nicht mal galoppieren lassen?«
»Du kannst ja wieder rausgehen, wenn es dir zu langweilig ist«, erwiderte Muriel mürrisch. »Das ist schließlich keine Zirkusvorführung.«
Vivien zog einen Schmollmund und verschränkte die Arme vor der Brust. Für wenige Augenblicke herrschte Ruhe, dann rief sie: »Du lässt die Longe zu weit durchhängen! Andrea sagt, dass sie …«
»Mam!« Muriel sandte einen flehenden Blick an ihre Mutter. »Kannst du sie nicht fortschicken?«
»Vivien, so geht das nicht.« Renata Vollmer legte den Notizblock aus der Hand und schaute ihre jüngste Tochter kopfschüttelnd an. »Du hast versprochen leise zu sein.«
»War ich doch.«
»Ja, ganze fünf Minuten.« Ascalon mit sich führend, ging Muriel auf Vivien zu, hielt aber einen großen Abstand, weil sie nicht wusste, wie der Wallach auf die Nähe der beiden Zuschauer reagieren würde.
»Vivien, du nervst«, sagte sie gereizt. »Merkst du das nicht? Dauernd plapperst du dazwischen. So kann ich nicht arbeiten.«
»Muriel hat recht«, pflichtete Renata Vollmer ihrer Ältesten bei. »Du hast versprochen ruhig zu sein. Wie wäre es, wenn du …«
»Ich gehe nicht weg!«, verkündete Vivien und schob trotzig die Unterlippe vor. »Ich will Muriel zusehen!«
»Dann höre ich sofort auf mit dem Longieren.« Muriel war so wütend, dass sie glaubte, platzen zu müssen. Warum war ihre Mutter nur immer so nachsichtig mit ihrer kleinen Schwester? Vivien tanzte allen auf der Nase herum, aber niemand hielt es für nötig, sie in ihre Schranken zu weisen. »Hau ab!«, zischte sie Vivien zu.
»Nö!« Demonstrativ machte Vivien es sich auf den Strohballen bequem. »Mama hat gesagt, ich darf bleiben.«
»Das war, bevor du angefangen hast zu stören!« Am liebsten hätte Muriel ihre Schwester am Arm gepackt und eigenhändig aus dem Stall geschleift. Das Letzte, was sie beim Longieren gebrauchen konnte, waren Viviens neunmalkluge Kommentare.
»Vivien, ich finde, es reicht«, mischte sich ihre Mutter in das Streitgespräch ein. »Wenn es Muriel stört, dass du ständig dazwischenredest, kannst du nicht hierbleiben. Ganz gleich, was ich vorher gesagt habe.«
»Da hörst du es«, griff Muriel die Worte ihrer Mutter auf. »Also, geh jetzt!«
Ein freches Grinsen huschte über Viviens Gesicht. »Du kannst mir gar nichts befehlen.«
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