Asche und Phönix
Drohbild die Wirklichkeit, vermischte sich das lebende, schreiende Publikum mit dem Leichenberg, über dem Libatique wie der König aller Massenmörder thronte.
Aus dem Augenwinkel konnte Parker Ash und Epiphany sehen. Er wünschte sich so sehr, sie wären nicht in der Nähe, aber er konnte es jetzt nicht mehr ändern. Seit Cap Ferrat hatte er das hier geplant, und ihm war klar, dass er keine zweite Chance bekommen würde.
Libatiques siegessicheres Lächeln wurde breiter. Aus seinen Augen stieg dunkler Rauch empor, zwei kräuselnde Bänder, die unter der Saaldecke in eine wabernde Schicht aus Schatten mündeten. Seit wann hing diese Wolke dort oben? Konnte nur Parker sie sehen, so wie die Vision von all den Toten? Er musste an Godfrey und Kenneth Levi denken, an Elodie und Flavien und Chimena.
Keine drei Meter mehr von Libatique und dessen blutender Hand entfernt stieg er entschlossen über eine Armlehne hinweg auf einen Sessel und hob das Mikrofon an den Mund.
»Ich bin Parker Cale«, sagte er, so laut er konnte, und die Lautsprecher schleuderten die Worte wie Geschosse hinaus in den Saal. »Ihr kennt mich als Phoenix Hawthorne, aber ich bin nicht derjenige, dem ihr ihn zu verdanken habt.«
Die schwarzen Bänder aus Libatiques Augen rissen ab. Glühende Pupillen loderten auf wie Flammen an einer Lunte.
»Nicht ich habe Phoenix in die Welt gebracht«, sagte Parker unbeirrt. »Und wie ihr alle wisst, war es auch nicht dieses Mädchen in den Staaten, das mein Vater euch als Schöpferin von Phoenix’ Welt verkauft hat.«
Geschrei und Jubel und Dankbarkeit, dass er überhaupt das Wort an sie richtete. Aber er spürte auch ihre Erwartung, Neugier und Irritation.
Libatique pflügte durch die Menge auf Ash und Epiphany zu.
»Zuletzt war es kein Geheimnis mehr, dass es einen anderen gab, der diese Bücher geschrieben hat«, rief Parker ins Mikrofon, während sich ihm unzählige Hände entgegenstreckten, so als wären sie es, die einen Pakt mit ihm eingehen wollten. »In Wahrheit war es ein Mann, der Phoenix erfunden und seine Geschichte auf Papier gebracht hat! Heute tritt er zum ersten Mal aus dem Schatten ins Scheinwerferlicht!«
Epiphanie schrie, als Libatique sie an den Haaren packte. Ash war hinter ihr und versuchte noch, ihr zu Hilfe zu kommen, doch die beiden Sicherheitsmänner waren schneller. Als sie Libatique berührten, leerten sich ihre Mienen und sie versanken im Gedränge, verschwanden einfach, als hätte sich der Boden unter ihnen aufgetan.
»Ich habe die Ehre, ihn euch allen vorzustellen!« Parker streckte die Hand aus und zeigte auf Libatique, der in seinem schwarzen Anzug und neben Epiphany aus der Menge hervorstach: jemand, der ganz und gar nicht in diese Welt gehörte.
»Zeigt ihm, wie sehr ihr ihn und seine Geschichten verehrt!«, rief Parker. »Ich bitte um Applaus für –«
66.
Ash sah die beiden Männer von der Security wie Puppen verschwinden, die schlagartig hinter eine Bühne gezogen wurden, so schnell, dass sie im einen Augenblick da und im nächsten schon fort waren.
»Ich bitte um –«
Sie hatte gerade nach Libatiques Arm greifen wollen, der Epiphany gepackt hielt und drohte, ihren Kopf so weit herumzudrehen, dass ihr das Genick brach. Im letzten Moment zog Ash ihre Hand zurück.
»– Applaus für –«
Die Menschenmenge schien kollektiv den Atem anzuhalten, ein Augenblick gespannter Stille, der unwirklicher erschien als alles, was heute hier vorgefallen war. Mit einem Mal lag Schweigen über dem Saal, von der Bühne bis zu den oberen Rängen, als Parker den wahren Star dieses Abends enthüllte.
67.
Fauchend zieht sich die Dunkelheit zurück. Libatiques Hand öffnet sich wie von selbst, so groß ist der Schock, als er begreift, was mit ihm geschieht.
Schweigen um ihn herum, die Stille im Herzen des Sturms, der gerade über sie alle hinwegrast, und gleich wird er wieder aufbrausen und heulen, viel schlimmer als zuvor.
»– Applaus für Monsieur Libatique!«, beendet der junge Cale seinen Satz.
Es ist grotesk. Monsieur Libatique. Nur ein paar Worte, eine Lüge zudem. Aber vielleicht hätte er bedenken müssen, dass Parker Cale Lügen wahr machen kann. Ein Schauspieler, dem die Menschen glauben. Der Blendwerk erschafft. Einer, von dem niemand die Wahrheit hören will. Der den Menschen nicht nur gibt, was sie wollen, sondern das, was sie brauchen. Sie selbst wissen nicht, was das ist. Doch Parker weiß es genau. Es sind die Unwahrheiten einer erfundenen Welt, die
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