Aschenpummel (German Edition)
jetzt nach mehr aus.
Ich war mit dem Ergebnis recht zufrieden. Nicht, dass ich richtig gut ausgesehen hätte, aber zumindest anders als sonst, und das war ja der Sinn der Übung.
Meine Geldbörse und das Handy steckte ich statt wie sonst in meinen Rucksack in eine zum Rock passende schwarze Handtasche, von der ich hoffte, dass man ihr nicht gleich ansah, dass sie aus Plastik war.
Ich schlüpfte in rote Flip-Flops und stellte mich abschließend noch einmal vor den Ganzkörperspiegel. Lippen vor, Wangen leicht einsaugen, geheimnisvoller Blick von schräg unten. Ja, ich wirkte tatsächlich anders als sonst.
Vorsichtig schlüpfte ich aus der Tür und versuchte, sie so leise wie möglich zu schließen. Nach dem ersten Flappen, das meine Schlapfen verursachten, zog ich sie aus, nahm sie in die Hand und schlich barfuß die Wendeltreppe hinunter. Ich war im zweiten Stock, als ich die Tür von unten aufgehen hörte. Mama. Sie musste irgendwas mitbekommen haben.
Ohne lange zu überlegen, drehte ich um und lief die Treppe wieder hinauf. So leise wie möglich sperrte ich meine Tür auf, wobei das ja auch schon egal war. In der Wohnung angekommen, schmiss ich mich auf mein Bett und starrte finster an die Zimmerdecke. Sollte sie mir morgen blöd kommen, dann würde ich ihr nicht nur sagen, dass sie sich die Sonntagsfahrten in Zukunft sonst wohin stecken konnte, sondern auch, dass sie mir nie, nie wieder nachspionieren durfte! Verdammt! Ich drehte mich auf den Bauch und kreischte in mein Kopfkissen. Heute noch, und nur noch heute, würde ich sie in Ruhe lassen. Aus Rücksicht auf sie würde ich erst in der Nacht meine Reise zum Piraten antreten, noch leiser und noch heimlicher, als ich es jetzt versucht hatte. Aber ab morgen würde die Schonung vorbei sein. Aus und vorbei, für immer. Ab morgen würde es zwischen meiner Mutter und mir nur noch die bittere Wahrheit geben. Und sollte sie an gebrochenem Herzen sterben, dann war ich auch nicht schuld daran.
»Wurscht«, flüsterte ich. »Alles wurscht.«
Ich wartete, bis es zehn Uhr war. Die Zeit bis dahin vertrieb ich mir vor dem Spiegel. Ich hatte meine alte Lambada-Kassette in den Rekorder geschoben und tanzte den verbotenen Tanz voll sündhafter Sinnlichkeit, wie ich selbst fand. Immer, wenn ich vor dem Spiegel tanzte, kam ich mir sexy vor. Immer. Das Blöde war nur, dass ich unter Menschen noch nie getanzt hatte und mir normalerweise schon das Stehen und Gehen in Gesellschaft Probleme bereitete. Wie konnte jemand, der sich so lasziv vor dem Spiegel bewegte, einen Gang haben wie ein Roboter auf Stelzen?
Ein letzter wogender Hüftschwung, dann toupierte ich die Haare frisch auf und zog mir die Lippen noch einmal nach.
Nacht, ich komme. Carpe diem, Teddy. Und veni, vidi, vici.
6
Ich war Maria aus der West Side Story . Doch halt, wahrscheinlich war genau das das Problem. Nicht die scheue, gute Maria sollte ich sein, sondern ihre Schwägerin, die feurige Rita. Ich flip-flopte durch die U-Bahnstation, den Kopf hocherhoben, die Lippen geschürzt. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, aber das sah ja keiner.
Es war ein völlig neues Erlebnis für mich, spätabends mit der U-Bahn zu fahren. Samstag, zweiundzwanzig Uhr. Um die Zeit schlief ich normalerweise vor dem Fernseher ein. Alle anderen anscheinend nicht. Die U-Bahn war gerammelt voll, und neben den ganzen Tussis, die sich fürs Ausgehen schick gemacht hatten, kam ich mir plötzlich fürchterlich unscheinbar vor. Trotz rotem Oberteil und roten Lippen. Außerdem hatte ich das Gefühl, mein Jungfernhäutchen mitten im Gesicht zu tragen. Ich reckte die Mäusefäustchen nach vorne. Ach, hätte ich bloß die Haare noch höher auftoupiert.
Am Naschmarkt stieg ich aus. Zwischen fünfzig anderen Leuten. Wie immer spürte ich mein Aufregungsbauchweh, und das, obwohl ich noch einige hundert Meter bis zur Wohnung des Piraten zurückzulegen hatte. Seine Adresse hatte ich – genau wie seine Telefonnummer – ein einziges Mal, und zwar vor vier Monaten, nachgeschlagen, und ich wusste, dass ich sie nie, nie würde vergessen können. Doch begegnet war ich ihm hier noch nicht. Auch wenn ich mir jedes Mal sicher gewesen war, dass es aber diesmal wirklich passieren würde.
Vor Nummer 106 blieb ich stehen. Sollte ich irgendwo klingeln und so versuchen ins Haus zu gelangen? Drin gewesen war ich bisher nie. Von hinten hörte ich Schritte. Ich fuhr herum und sah einen jungen Mann auf mich zukommen. Beflissen machte ich ihm Platz, damit er
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