Aschenpummel (German Edition)
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Den Nebensatz bei Punkt Nummer 5 strich ich gleich wieder durch. So ein Blödsinn, ich würde doch nicht jetzt, wo meine Chancen um ein Vielfaches gestiegen waren, die Flinte ins Korn werfen.
Als Nächstes strich ich Punkt 1 durch. Es war ein Uhr nachts, der Sonntag hatte also schon begonnen, da wäre es echt nicht fair, Mama abzusagen. Auch wenn ich mich abgrenzen wollte, ein Ekel brauchte ich nicht gleich zu werden.
Danach strich ich die Sache mit dem Wegziehen bei Punkt Nummer 3 durch. Ich mochte meine Wohnung und wollte unbedingt noch das Meer und das rote Segelboot in meinem Schlafzimmer haben. Sollte doch Mama ausziehen.
Okay, viel blieb nicht auf meiner Liste. Aber für mich war es dennoch genug.
Die Nacht dauerte nur noch wenige Stunden und war trotzdem viel zu lang, ähnlich wie die davor. Doch während ich in der Nacht auf Samstag das aufregende Gefühl gehabt hatte, dass durch mein neues Leben und meine neue Einstellung alles Mögliche geschehen konnte, war in der Nacht auf Sonntag schon viel zu viel geschehen, als dass überhaupt noch irgendetwas möglich schien. Solche und ähnlich verworrene Gedankengänge quälten mich und mein Hirn, während ich – meine Jane Eyre fest an die Brust gedrückt – im Bett lag und verzweifelt auf den Schlaf wartete.
Denn schlafen musste ich, sonst würde ich morgen eine noch schlechtere Autofahrerin sein als ohnehin schon, und das Allerletzte, was ich auf der Welt wollte, war mit Mama gemeinsam zu sterben. Ich hätte es nicht ertragen, mit ihr durch den Lichttunnel zu gehen, mit ihr im Himmel zu landen, oder in der Hölle, oder reinkarniert zurück auf dieser Welt, bei meinem Glück noch als Zwillingspärchen oder so.
Es war nach drei Uhr morgens, als ich endlich einschlief. Ich träumte von Spinnen und durchsichtigen Larven, die sich schließlich doch durch meinen Mund schlängelten und meine Schleimhäute als Nistplatz benutzten. Schreiend wachte ich auf und stocherte mir im Mund herum. Es war halb sechs. Ich sprang aus dem Bett und suchte meinen Körper nach Insekten ab. Dieser verfluchte Pirat und sein Buch, dieser liebe, süße, verfluchte Pirat.
Ich hatte Kopfschmerzen, einen richtigen Kater wie im Fernsehen und sehnte mich trotzdem nach einem Long Island Ice Tea. Mit dessen Hilfe hätte ich Mama sagen können, dass ich sie heute nicht auf den Kahlenberg fahren würde. Wäre es denn wirklich so unfair von mir, ihr kurzfristig abzusagen? Es gab doch einen Bus da rauf. Und außerdem, was wenn ich krank wäre? Das war es! Ich war heute einfach mal krank.
10
Zwei Stunden, drei Kaffees und ein Erdbeereis später läutete ich bei Mama. Fünf Minuten danach saßen wir im Fiat und waren auf dem Weg zum Kahlenberg.
»Du schwitzt, Thaddäa. Und du weißt auch, warum du schwitzt, nicht wahr, Thaddäa? Zehn Kilo weniger, vielleicht auch zwanzig oder dreißig, und du würdest nicht mehr so schwitzen. Ich meine es nur gut mit dir. Wie viel wiegst du mittlerweile? Neunundsiebzig Kilogramm?«
Ich zuckte zusammen, so treffend war ihre Schätzung.
»In deinem Alter habe ich achtundvierzig Kilogramm gewogen. Genauso wenig wie mit zwanzig und genauso wenig wie jetzt.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger über das Armaturenbrett und betrachtete ihn anschließend prüfend. Mein Auto war das bestgeputzte der Stadt, Mama bestand schließlich auf penibelste Sauberkeit. Trotzdem sagte sie: »Das Auto ist auch dreckig.«
Ich starrte auf die Straße, konnte Mama höchstens aus dem Augenwinkel sehen, bekam ihren kummervollen Blick jedoch intuitiv mit.
»Es ist nur zu deinem Besten, wenn ich dich ans Abnehmen erinnere. Schließlich willst du doch auch einmal einen Mann abkriegen, oder?«
»Mama …«
»Mama hat es nicht leicht mit dir, Thaddäa.«
»Ja, Mama.«
»Tirza habe ich auf die Universität geschickt, sie ist ja die Kluge. Du solltest mir Enkelkinder schenken, Thaddäa. Weißt du eigentlich, wie sehr ich mich nach Enkelkindern sehne? Wie gut deiner Mama ein bisschen Leben in ihrem Umfeld tun würde? So schwach wie mein Herz in letzter Zeit ist, habe ich keine Ahnung, wie lange ich euch noch mit meiner Gesellschaft auf Erden erfreuen kann. Da gibt es keine Zeit zu verlieren. Nicht auszudenken, wenn deine Kinder ihre liebe Oma nicht mehr kennenlernen dürften.«
»Mama …«, sagte ich und ärgerte mich darüber, dass meine Stimme belegt klang.
»Freilich ist es ein Jammer, ein großer Jammer, dass Tirza allein auch noch alle Schönheit abbekommen hat.
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