Aschenpummel (German Edition)
freiwillig in die Klapsmühle begeben hätte.
Den Mund weit aufgerissen, schleppte ich mich zum Fenster. Ich stieß es auf. Ein warmer Schwall Luft strömte mir entgegen. Ich lehnte mich weit hinaus und versuchte mir vorzustellen, was der Pirat empfinden würde, wenn er von meinem zerschmetterten Körper erfuhr.
Ich hoffte bei Gott, dass es ihn für immer verfolgen würde. Er hatte Frau Kis an jenem Abend gehen lassen und sie hat sich aus dem Fenster gestürzt. Ja, das tat gut. Wie schuldig sie sich alle fühlen würden. Der Pirat, Mama, Tissi. Alle, alle wären sie schockiert, dass ich es tatsächlich getan hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte mich noch weiter hinaus.
Und dann noch einen Zentimeter mehr. Und noch einen. Ich schloss die Augen. Ein Stückchen noch, dann würde die Schwerkraft den Sieg davontragen. Einen Sieg auf meinem zertrümmerten Rücken.
Von unten hallten Schritte herauf. Ich blinzelte. Ein alter Mann ging mit seinem Dackel Gassi. Der Hund blieb stehen und hob das Bein. Er pinkelte an die Laterne unter meinem Fenster und trippelte dann weiter.
Ich starrte ihm nach. Wenn ich jetzt hinuntersprang, würde ich mitten in der Dackelpfütze landen. Was für ein ungeheuer ironisches Ende für ein verpisstes Leben. Ich sank auf die Knie und stützte die Arme auf die Fensterbank.
In meinen Ohren rauschte es. Der alte Mann und sein Hund, die würden morgen noch leben. Der Pirat würde noch leben. Die ganze Welt würde sich einfach so weiterdrehen, nur ich wäre nicht mehr da.
Da weinte ich gleich wieder. In Sachen Selbstmitleid war ich schon immer recht talentiert gewesen, und an diesem Abend übertraf ich mich selbst. Aufs Tiefste betrübt, bejammerte ich meinen eigenen Tod. Und als ich mir klarmachte, dass wahrscheinlich niemand so sehr um mich trauern würde wie ich selbst, da jammerte ich gleich umso lauter. Doch als ich mir wiederum klarmachte, was das zu bedeuten hatte, da wurde ich plötzlich stumm.
Hallo! Ich konnte mich doch nicht aus dem Fenster werfen, wenn ich das selbst so schade fand. War ich denn komplett verrückt?
Glaubte ich wirklich, dass ein Sonntag mit Mama und dem kaputten Auto schlimmer war als da hinunterzuspringen? Fand ich tatsächlich, dass ich in einen Sarg unter die Erde gehörte, obwohl es ja noch nicht mal zweifelsfrei erwiesen war, dass der Pirat eine Frau hatte? Vor Empörung über mich selbst blieb mir die Luft weg. Ich hustete und röchelte, war plötzlich voller Panik, dass ich ersticken könnte. Sterben könnte! Ich hängte mich erneut aus dem Fenster und als ich endlich wieder Atem geschöpft hatte, schrie ich in die Nacht hinaus: »Ich will leben!«
Keine halbe Minute später kam die Antwort. Aus einem Fenster vier Stockwerke unter mir: »Thaddäa!! Du bringst mich noch ins Grab!«
Ich lag im Bett, hörte die schönsten Love Songs aller Zeiten im Radio und spürte dermaßen intensiv das Leben in mir, dass ich vor Wonne beinahe sterben musste. Ehrlich.
Ich wollte leben. Auf Teufel komm raus. Welch schönere Entdeckung konnte man für sich selbst eigentlich machen?
Gut, ein bisschen unangenehm war die Vorstellung schon, dass ich jetzt genauso gut da unten auf dem Gehsteig hätte liegen können oder vielleicht sogar schon auf dem Pathologentisch mit meinem viel zu intakten Jungfernhäutchen. Aber mal ganz ehrlich, so knapp war es dann wohl doch nicht gewesen. Wie ich mich kenne, hätte ich vor dem endgültigen Sprung sicher »My Way« eingelegt – als große Abschiedsnummer, final curtain und so – und dann hätte ich mich wieder so stark und mutig gefühlt, dass der Ausweg nach unten auf den Gehsteig undenkbar gewesen wäre.
Ich drehte das Radio lauter. Billie Joel begann gerade zu erklären, warum sie always a woman für ihn war, und ich beschloss, dass ich ganz genauso sein wollte wie dieses woman. She can kill with a smile, she can wound with her eyes, oh ja, das war es, genau das wollte ich.
Eine Frau, neben der alle anderen verblassten, eine Frau, die man nie vergaß, selbst wenn man sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, eine Frau, die mit ihrem Lächeln, ähm … ja, eben killen konnte.
In meinen Träumen war ich natürlich immer schon gigantomanisch gewesen: Multimillionärin, Nobelpreisträgerin, Topmodel, Oscargewinnerin, Mutterhureheilige und Ärztin ohne Grenzen in einem. Doch der Riesenunterschied zwischen früher und jetzt war der, dass ich jetzt vollkommen überzeugt davon war, all das tatsächlich erreichen zu
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