Aschenputtel: Thriller (German Edition)
Bahnsteig gehen, auf die andere Seite hinüber, wo weniger Leute standen. Sie holte etwas aus ihrer Handtasche. Vielleicht ein Handy? Wahrscheinlich saß das Kind immer noch im Zug und schlief. Das hatte es zumindest getan, als der Zug an Katrineholm vorbeigerauscht war. Henry seufzte. Was um Himmels willen tat er nur, spionierte er schönen Frauen nach?
Er wandte den Blick ab und widmete sich einem Kreuzworträtsel in der neusten Ausgabe von Året Runt. Er würde sich noch oft fragen, was wohl gewesen wäre, wenn er die Frau auf dem Bahnsteig nicht aus den Augen gelassen hätte, ganz gleich wie viele Leute später versuchten, ihn davon zu überzeugen, dass er das alles niemals habe ahnen können und sich keine Vorwürfe zu machen brauche. Henry war und blieb fest davon überzeugt, dass sein Eifer, ein Kreuzworträtsel in einer Zeitschrift zu lösen, das Leben einer jungen Mutter zerstört hatte. Und es gab absolut nichts, womit er dies ungeschehen machen konnte.
Henry saß immer noch über dem Kreuzworträtsel, als er Arvids Stimme aus dem Lautsprecher hörte. Der Zug sei nun bereit, die Fahrt nach Stockholm fortzusetzen.
Hinterher konnte sich niemand mehr daran erinnern, eine Frau gesehen zu haben, die dem Zug nachlief. Aber so musste es gewesen sein, denn nur wenige Minuten später erhielt Henry im Personalabteil einen dringenden Anruf. Die junge Frau, die auf Platz sechs in Wagen zwei neben ihrer Tochter gesessen hatte, sei auf dem Bahnsteig in Flemingsberg zurückgeblieben, als der Zug wieder losgefahren war, und sitze jetzt in einem Taxi auf dem Weg in die Stockholmer Innenstadt. Demnach befand sich ihre kleine Tochter allein im Zug.
» Verdammt«, fluchte Henry und legte auf. Dass immer er sich um alles kümmern musste! Dass er niemals seine Ruhe hatte!
Da man dem Ziel der Reise schon so nahe war, wurde gar nicht erst erwogen, den Zug an einem früheren Bahnhof anhalten zu lassen. Henry eilte in Wagen zwei. Ja, es musste die rothaarige Frau auf dem Bahnsteig gewesen sein, die den Zug verpasst hatte. Ihre Tochter saß tatsächlich allein auf ihrem Platz.
Er berichtete über Handy an die Kommunikationszentrale zurück, dass das Mädchen immer noch schlafe und es unnötig sei, es vor der Ankunft in Stockholm zu wecken und ihm mit der Information über die Abwesenheit der Mutter womöglich Angst zu machen. Am anderen Ende der Leitung war man der gleichen Ansicht, und Henry versprach, sich persönlich um das Mädchen zu kümmern, sobald der Zug im Bahnhof einfuhr. Persönlich. Ein Wort, das noch lange in Henrys Kopf nachklingen sollte.
Als der Zug den Südbahnhof passierte, fingen die Mädchen in Wagen drei wieder an zu streiten. Die Türen glitten auf, und Henry hörte, wie dort Glas zersplitterte. Er rief über Funk nach seinem Kollegen. » Arvid, sofort in Wagen drei!«
Doch von Arvid kam keine Reaktion. Also machte er sich selbst auf den Weg.
Noch ehe Henry die beiden Mädchen voneinander trennen konnte, hatten sie den Stockholmer Hauptbahnhof erreicht, und mit seinem charakteristischen Schnaufen, das wie das schwere, angestrengte Ausatmen eines alten Menschen klang, blieb der Zug stehen.
» Hure!«, brüllte die Blonde.
» Fotze!«, konterte ihre Freundin.
» Also, wie ihr euch benehmt«, sagte eine ältere Dame, die gerade aufgestanden war, um ihre Reisetasche aus der Gepäckablage zu angeln.
Henry drückte sich an den Fahrgästen vorbei, die sich bereits im Gang aufgereiht hatten, um auszusteigen, und rief noch über die Schulter zurück: » Ihr Mädchen macht jetzt, was ich sage, und verlasst sofort den Zug!« Dann eilte er zurück zu Wagen zwei. Wenn das Kind nur noch nicht aufgewacht war. Aber er war ja gleich da.
Auf seiner kurzen Wanderung rempelte Henry versehentlich einige Leute an, und hinterher sollte er schwören, dass er keine drei Minuten weg gewesen war.
Doch das änderte gar nichts.
Als er Wagen zwei erreichte, war das Mädchen verschwunden. Auf dem Boden lagen noch die kleinen Sandalen. Und die Menschen, die unter Henry Lindgrens Geleit von Göteborg nach Stockholm gereist waren, strömten aus dem Zug auf den Bahnsteig hinaus.
Alex Recht arbeitete seit mehr als einem Vierteljahrhundert bei der Polizei, und er war der Ansicht, mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen zu dürfen, eine mehr als achtbare Erfahrung zu besitzen und sich im Lauf der Jahre ein gewaltiges Maß an Fachkompetenz und eine hervorragende Intuition erworben zu haben. Man sagte ihm nach, er habe ein
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