Aschenputtel: Thriller (German Edition)
wusste nie, was sie erwartete, wenn die Dunkelheit kam.
» Es ist so weit, Püppchen. Wir können loslegen.«
Die Anspannung in ihrem Gesicht ging in ein schönes, hellwaches Lächeln über.
» Morgen geht es los«, flüsterte er.
Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und fixierte die Fliege an der Decke. Wach und in Bereitschaft. Ohne auszuruhen.
Dienstag
Es war mitten im Sommer, und es wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu regnen, als das erste Kind verschwand. An einem Dienstag fing es an– an einem seltsamen Tag, der ein Tag wie jeder andere hätte werden können, am Ende dann aber das Leben einer ganzen Reihe von Menschen von Grund auf veränderte.
Henry Lindgren war einer von ihnen.
Es war der dritte Dienstag im Juli, und Henry fuhr eine Extraschicht im X2000 von Göteborg nach Stockholm. Er arbeitete schon seit mehr Jahren, als er sich eingestehen wollte, bei der Schwedischen Eisenbahn, und er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden sollte, wenn sie ihn eines Tages in Rente schickten. Was würde er dann mit seiner Zeit anfangen, wo er doch nun allein war?
Vielleicht war es Henry Lindgrens Auge für Details, das ihm im Nachhinein half, sich so gut an die junge Frau zu erinnern, die während der Reise ihr Kind verlieren sollte– die junge, rotblonde Frau mit der grünen Leinenbluse und den offenen Sandalen, aus denen blau lackierte Zehnägel herausschauten. Wenn Henry und seine Frau eine Tochter gehabt hätten, dann hätte sie wahrscheinlich ganz ähnlich ausgesehen. Die Haare seiner Frau waren auch rot gewesen.
Als er ihre Fahrkarten abstempelte, kurz nachdem sie den Bahnhof von Göteborg verlassen hatten, stellte er fest, dass das kleine Mädchen seiner rothaarigen Mutter überhaupt nicht ähnlich sah. Die Haare des Kindes waren von dunklem Kastanienbraun und fielen ihm in derart sanften Wellen über den Kopf, dass sie fast künstlich wirkten. Sie endeten leicht auf seinen Schultern und krabbelten dann nach vorn, wie um das kleine Gesicht einzurahmen. Die Haut war dunkler als die der Mutter. Die Augen waren groß und blau. Auf dem Nasenrücken saßen winzig kleine Grüppchen von Sommersprossen, was das Gesicht nicht ganz so puppenhaft aussehen ließ.
Als Henry weiterging, lächelte er dem Kind zu. Es lächelte scheu zurück. Henry fand, dass das Mädchen müde aussah. Die Kleine wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster, den Kopf an die Rückbank gelehnt.
» Lilian, zieh deine Schuhe aus, wenn du mit den Füßen auf den Sitz willst«, hörte er die Frau zu dem Kind sagen, als er sich umdrehte, um die Fahrkarte des nächsten Reisenden abzustempeln. Als er ihnen danach noch einen Blick zuwarf, hatte das Kind die kleinen Sandalen bereits abgeschüttelt und die Beine unter sich gezogen. Die Sandalen würden dort noch liegen, als das Mädchen schon verschwunden war.
Es sollte eine unruhige Zugreise werden. Am Vorabend hatte ein Weltstar im Göteborger Ullevi-Stadion ein Konzert gegeben, und jede Menge Fans fuhren nun mit dem Vormittagszug, in dem Henry Schaffner war, zurück nach Stockholm. Das erste Problem stellte sich ihm in Wagen fünf, wo zwei junge Männer die Sitze vollgekotzt hatten, offenbar Nachwehen der zurückliegenden Ereignisse im Ullevi. Henry musste Putzmittel holen und nasse Lappen.
Ungefähr gleichzeitig fingen zwei jüngere Mädchen in Wagen drei an, sich zu prügeln. Eine Blonde beschuldigte eine Brünette, sie hätte versucht, ihr den Freund auszuspannen. Henry versuchte vergeblich, zwischen den beiden zu vermitteln, doch Ruhe und Ordnung stellten sich im Zug erst ein, als sie an Skövde vorbei waren. Da waren die Störenfriede endlich eingenickt, und Henry konnte mit Nellie aus dem Speisewagen einen Kaffee trinken. Auf dem Rückweg sah Henry aus dem Augenwinkel, dass auch die rothaarige Frau und ihre Tochter Lilian schliefen.
Danach verlief die Reise ruhig, bis man sich Stockholm näherte. Erst als der Zug wenige Kilometer vor der Hauptstadt den Bahnhof Flemingsberg erreichte, rief der zweite Zugchef Arvid Melin etwas über die Lautsprecher aus. Der Lokführer hatte die Nachricht erhalten, dass man wegen einer Signalstörung den Stockholmer Hauptbahnhof erst fünf bis zehn Minuten später anfahren könne.
Der Zug hielt in Flemingsberg, und Henry sah, wie die rothaarige Frau auf den Bahnsteig hinaustrat. Verstohlen beobachtete er sie durch das Fenster des kleinen Abteils in Wagen sechs, das für das Zugpersonal reserviert war. Er sah sie einige Schritte über den
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