Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
Weg zurückgesprintet und noch vor Sonnenuntergang zu Hause gewesen.
Aber rohe Gewalt war nun einmal nicht alles. Man musste auch in der Lage sein, seine Kräfte zu kontrollieren. Daher schlich sich Ash jeden Morgen vor der Dämmerung in den Park oder den nahe gelegenen Wald von Sydenham, um zu trainieren. Man hatte ihm die Grundlagen von Kalari-payit beigebracht, der uralten indischen Kampfkunst. Einmal hatte er sogar einen Blick auf Kali selbst erhaschen und sie beim Kämpfen beobachten können. Irgendwo in seiner DNA waren sämtliche Kampfkünste angelegt. Hohe und tiefe Tritte, weit ausholende Schwünge, Schläge, Speer-Attacken und Blockaden. Mit instinktiver Anmut vollführte er die verschiedenen Bewegungen wie in einem Fluss. Der Rhythmus, der Tanz Kalis, fiel ihm immer leichter.
Würde er jemals wirklich »normal« sein? Nein. Die Todesenergien, die er von Ravana aufgenommen hatte, würden mit der Zeit nachlassen, doch wann? Es konnte Jahrzehnte dauern. Jahrhunderte. Keine Waagschale der Welt konnte die Kraft des Dämonenkönigs messen. Und wenn – falls – Ravanas Kräfte verebbten, würde Ash doch für alle Zeit frische Energien in sich aufnehmen. Auf den Tod war Verlass und jeder Tod stärkte ihn.
Der Tod war überall.
Jetzt im Winter hatten die Bäume entlang der Alleen ihr Sommerkleid abgeworfen und die Rinnsteine lagen voller feuchter goldener Blätter, die allmählich verrotteten, allmählich starben. Sogar wenn Ash an den zerfallenden Haufen vorüberging, drang ein winziges bisschen Energie in seine Fingerspitzen ein. Nachts betrachtete Ash die Sterne und fragte sich, ob irgendwo da draußen im Universum gerade eine Supernova stattfand, das Sterben eines Sterns. Oder das Verlöschen eines Solarsystems, das ganze Tsunamis an Energie ausstrahlen musste. Machte auch der Himmel ihn stärker?
Manchmal erschien ihm all das zu groß – was er war und was das bedeutete. Deshalb verhielt sich Ash in der Schule nur zu gern völlig normal. Deshalb versteckte er seine Kräfte. Es tat ihm gut, so zu tun, als ob – zu entfliehen, auch wenn es nur für ein paar Stunden am Tag war.
Ash spürte die Kälte des frühen Abends, doch sie machte ihm nichts aus. Seinen Pulli trug er nur noch zur Show. Es war kurz nach halb fünf und lange Herbstschatten geleiteten ihn nach Hause.
Einmal blieb Ash stehen und blickte suchend die Straße auf und ab. Wozu? Glaubte er im Ernst, dass Gemma ihm gefolgt war? Verdammt unwahrscheinlich nach seiner jämmerlichen Aktion in der Mittagspause.
Du hast es vermasselt.
So viel um ihn herum hatte sich verändert und dann auch wieder nicht. Mathe war ihm immer noch ein Rätsel und er hatte anschaulich bewiesen, dass er es nach wie vor nicht schaffte, ein Date zu bekommen.
Als er in die Croxten Road einbog, entdeckte er einen verbeulten weißen Lieferwagen vor der Einfahrt seines Zuhauses. Musste wohl zur Hausnummer 43 gehören – die Nachbarn ließen ihr Haus neu streichen. Ash würde die Handwerker bitten umzuparken, bevor sein Dad heimkam. Sollten sie sich weigern, konnte er es auch selbst erledigen. Das Fahrzeug wog wahrscheinlich drei Tonnen – also kein Problem.
Bevor Ash auch nur anklopfen konnte, riss Lucky bereits die Haustür auf. Seine Schwester trug ihre Schuluniform: einen grünen Pullover, einen grauen Rock und dazu graue Kniestrümpfe. Ihr langer schwarzer Pferdeschwanz wippte hin und her, während sie sich immer wieder umdrehte. »Ash –«
»Bevor du dir die Mühe machst zu fragen – die Antwort lautet: Nein.« Ash ging ins Haus und warf seinen Rucksack in die Ecke. »Ich habe Gemma nicht gefragt, ob sie mit mir ausgeht.«
»Ash –«
»Gib Ruhe, okay? Wer sagt denn überhaupt, dass ich sie mag?« Er lief durch den Flur in die Küche. Was er jetzt dringend brauchte, war etwas Seelenfutter und die Packung Donuts im Naschregal wäre optimal geeignet. Doch als er den Türknauf drehen wollte, hielt Lucky ihn am Arm fest.
»Ash!«
»Was?«
Lucky war die Einzige, die wusste, was er in Indien durchgemacht hatte, und trotzdem behandelte sie ihn kein Stück anders als früher. Obwohl sie elf war und viel zu neunmalklug, würde er darum sein Leben für sie geben.
Genau genommen hatte er sein Leben für sie gegeben.
Man sollte doch annehmen, dass sie ihm das irgendwie anrechnete, oder? Stattdessen war sie – zumindest im Augenblick – eine typische kleine Schwester, die ihm tierisch auf die Nerven fiel.
Lucky starrte ihn fest an, als versuche sie, ihre
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