Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
gewichen, und ihre unbeholfenen Finger kribbelten. Jetzt hörte sie ein seltsames Zischen, verursacht, wie sie wusste, durch Geröll, das über Felswände rutschte. Schlimmer schien ihr aber dieser Schwefelgestank, und ihr wurde allmählich schummrig.
Bleib da, gib nicht auf. Wenn sie die Augen schloss, würde sie sie nie wieder aufmachen. Mit größter Willensanstrengung zwang sie sich weiterzuklettern. Weiter, weiter, lauf, Tom, lauf, lau…
Wieder ein Erdstoß, und sie geriet ins Schwanken, rutschte mit dem linken Stiefel aus, dann schrie sie und warf sich nach vorn, klammerte sich mit beiden Armen fest an die schlingernde Leiter. Irgendwo über ihrem Kopf tat es einen gewaltigen Schlag und dann zerbrach etwas. Etwas Großes schwirrte vorüber, und sie konnte nur noch das eine Wort denken: riesig.
Als das Ding mit einem gigantischen Platschen im brodelnden Wasser landete, spritzte es bis zu Alex’ Knöcheln hoch, ehe es sich zischend wieder zurückzog.
Das hab ich gespürt. Echt nah. Holt mich ein. Und was dann? Vielleicht konnte sie ja auf dem Wasser treiben. Wenn es weiter stieg, würde es sie womöglich bis zur Oberfläche tragen – denn sie war wirklich erschöpft. Der Energieschub von vorhin verebbte. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, ihre Lippen waren gefühllos geworden. Das Gas? Möglich. Vielleicht sprudelte deshalb das Wasser so. War es Methan? Nein, nein, es war …
»Kohlebergwerke.« Sie sprach es laut aus, damit sie sich selbst hören konnte und wusste, dass ihr Hirn noch funktionierte. »In Kohlebergwerken gibt es Methan. In anderen Bergwerken … « Zum Teufel, sie hatte keine Ahnung. Ich hätte in Erdkunde besser aufpassen sollen. Müde bis in die Knochen umarmte sie die Leiter. Splitter kratzten an ihrer Wange, rissen an ihrer blutigen Stirn. »Komm schon, Alex«, murmelte sie. »Nicht einschlafen, wach bleiben.«
Lauf, Alex. Das war Tom in ihren Gedanken. Nicht das Monster, nicht ihre eigene Stimme, sondern Tom. Vielleicht auch noch Chris. Lauf. Lauf zu mir. Lauf zu uns.
»Ja, ja, ich komme«, keuchte sie. Mit der rechten Hand tastete sie nach der nächsten Sprosse, hielt sich mit der schwachen linken fest und schaute hinauf. »Ich bin gleich … «
Sterne.
Einen Moment lang konnte sie nur mit offenem Mund staunen. Sie zwinkerte, aber an dem Anblick änderte sich nichts.
Da sind Sterne. O mein Gott. Ich bin bestimmt ganz nah, ganz bestimmt. Sie wurde emporgehoben, torkelte, als die Erde bebte. Ihr Kopf war leer, ihr linker Arm nicht gerade in Form, und sogar der rechte ziemlich mitgenommen. Den Rücken durchgestreckt versuchte sie, sich mit einem Klammergriff in die Höhe zu ziehen …
Und griff ins Leere.
Ihre rechte Hand fand keinen Halt. Sie verlor das Gleichgewicht, und da rutschte auch ihr rechter Fuß ab, sodass sie mit dem Gesicht gegen den rechten Holm schlug. Vor Schmerz wurde ihr einen Moment lang schwarz vor Augen, ihre Haut platzte auf, und sie schluchzte atemlos. Verzweifelt kämpfte sie darum, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, versuchte, sich am Fels abzustoßen, der doch direkt vor ihr sein musste –
Aber da war nichts. Nur schwarze Leere. Weder Fels noch Holz. Ihr ganzes Körpergewicht hatte sich auf einen Punkt jenseits des rechten Holms verlagert, und sie drehte sich um die Achse, die ihr verletzter linker Arm bildete. Ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein baumelten hilflos in der Luft, das Holz war glitschig und uralt, und sie drehte sich immer noch, ihr Körper hing zwischen der Felswand hinter ihrem Rücken und der Leiter direkt vor ihrem Gesicht. Da spürte sie, wie sich das überstrapazierte Holz bog. Wieder zerbarst etwas, und dann folgte ein gedehntes, hohes Quietschen, das sie noch über das stete Rumpeln und Brausen von Wasser und Geröll hinweg hörte.
O Gott, bitte, ich bin doch so nah, bitte hilf mir.
Es waren keine dreißig Meter mehr, aber es hätten ebenso gut Kilometer sein können. Oben verblassten die Sterne, verloschen hinter einem jähen Schwarm kalter Schatten schwärzer als die Nacht. Die Erde begann in sich zusammenzufallen, die Oberfläche zerbröckelte; Felsgestein prasselte herunter, ebenso die Schatten, und sie spürte, wie die Leiter bebte und auseinanderzubrechen begann, gleich würde sie –
Krachend zersplitterte die Leiter, und plötzlich hatte Alex buchstäblich nichts mehr in den Händen. Unter ihr öffnete sich der Schlund des Schachts. Das Wasser war ohrenbetäubend, es war alles, was noch blieb. Ihr Mund war
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