Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Aus dem Gleichgewicht gebracht, nur noch Luft unter den Händen, taumelte er und wäre beinah abgestürzt … und vielleicht wollte er im Grunde gar nichts anderes.
Aber Weller hielt ihn unbeirrt fest. Der Alte zog ihn vom Abgrund zurück, ließ nicht locker, und Luke schrie: »Tom, bitte, wir müssen hier weg, ich kann nicht ohne dich gehen. Bitte!«
Und ich kann nicht ohne sie gehen. Aber niemand würde ihm helfen. Er konnte sie nicht retten. Niemals würde er rechtzeitig bei ihr sein, und das wusste sie. Mich retten? Wozu? Aber wenn er bis zum Ende bei ihr blieb, würde dieser Junge sterben, und auch Weller – und das alles wäre seine Schuld.
»Hilf mir!« Seine ganze Trauer und Wut machte sich in einem gequälten Aufschrei Luft. »Gott, bitte, hilf mir! Nicht noch einmal, verlang das nicht noch einmal von mir!«
Die Antwort kam prompt. Denn im nächsten Augenblick gellten Schüsse durch die Luft, Gewehrkugeln zischten und pfiffen. Fluchend zerrte Weller Tom auf die Beine, und dann stolperte er durch den Schnee, fort von ihr, und Luke schrie immer noch, und er, Tom, schrie ihren Namen, schrie an gegen das hohle tatatatatatatat der Uzis, während der Abstand zu ihr wuchs.
Es passierte wieder. Seine Entscheidung war getroffen. Der Draht war durchgeschnitten, und er fühlte sich genauso elend und verzweifelt wie an dem Tag, als das eine Kind sterben musste, weil er nicht beide retten konnte.
Dann glaubte er, irgendwie in all dem Lärm wieder das hohe Trillern der Pfeife zu hören. Das konnte natürlich nicht sein. Bestimmt bildete er es sich nur ein, ein Schrillen, das immer leiser und schwächer wurde, bis sich der Ton in der Weite unter einem irrwitzigen Mond verlor – und dabei auch sein Herz zerbrach.
Aber der Boden schwankte und bebte weiterhin, und während sie flohen, geriet der Schnee unter ihren Skiern in Bewegung. Doch auch das würde irgendwann enden: Wenn die müde Erde aufgab, so wie er.
Nur tat er es früher.
88
Mein Gott, sie hoffte, dass er auf sie hörte. Vermutlich schon, denn sie konnte ihn nicht mehr hören, nicht bei
dem Poltern der Steine, dem dröhnenden Rumpeln und dem Zischen und Brodeln des schwarzen Wassers tief unten. Es gab einen gewaltigen Erdstoß, der sie beinahe von der Leiter gefegt hätte,
und dann hörte er auf zu rufen. Sein Geruch war verflogen. Also war er wohl weggegangen. Aber es hatte auch einen Schusswechsel gegeben. War er getroffen worden? War er tot?
Nein, lieber Gott, bitte, lass das nicht zu. Beschütz ihn, mach, dass er weggeht.
Sie wollte nicht, dass er ging. Es war das Letzte, was sie sich wünschte, denn jetzt war sie wirklich allein, nur das Monster leistete ihr noch Gesellschaft: lauerte in ihrem Kopf, wartete darauf, dass sie einen Fehler machte.
Nein, den machst du nicht. Sie zwang sich weiterzuklettern: Ein Schritt, dann noch einer und noch einer. Noch nicht.
Wieder einmal war sie auf sich allein gestellt. Wie vielleicht schon ihr ganzes Leben lang. Sie war nicht Daniel. Verdammt, sie war aber auch nicht sicher, ob sie noch Alex war. Jetzt kam es nur darauf an, dass Tom noch lebte und sich irgendwo da oben befand, und dafür lohnte es sich weiterzumachen. Sie konnten sich nicht berühren, aber er hatte es trotzdem getan, ob er es wusste oder nicht – denn Hoffnung war genug. Hoffnung war alles, was ihr blieb.
Sie würde zu ihm laufen.
Also, lauf, Tom, lauf, sang sie sich in Gedanken vor. Lauf, Tom, zieh mich hoch, lauf, lauf, lauf. An diesem Mantra hielt sie sich fest, während sie die Leiter hinaufstieg, die sich anscheinend auch entschlossen hatte, den Geist noch nicht gleich aufzugeben. Mit ihren letzten Kräften mühte sie sich weiter hoch, nur noch geleitet vom Tastsinn und dem Vertrauen darauf, dass die nächste Sprosse noch da sein würde, und die danach und so weiter und so weiter, hinauf in eine Welt, die sie wahrscheinlich nicht mehr sehen würde, zu der sie aber hinaufstrebte, weil er darin lebte. Tom war am Leben, und darauf konnte sie bauen, hier in der Dunkelheit war das so real wie das Holz unter ihren Händen und das Zucken der Erde und das wilde Pochen ihres Herzens.
Sie klammerte sich an die ruckelnde, zitternde Leiter, spürte, wie das Holz ihr die Haut aufriss. Ihre Hände waren blutig; ein herabstürzender Stein, scharf wie eine Glasscherbe, hatte ihr die Stirn aufgeritzt, und jetzt musste sie sich alle paar Sekunden das Blut aus den Augen wischen. In ihrer linken Schulter war das Brennen einer kalten Taubheit
Weitere Kostenlose Bücher