Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
einer Schneekugel sein können. Der Wind zog und zerrte an Lenas Haar, weil man ihr nicht erlaubt hatte, eine Mütze aufzusetzen, und ihre Ohren brannten vor Kälte. Von der Laterne war im Wagen nur ein verschwommenes Glimmen zu sehen, und ihr Bewacher, ein Riese von Mann, hatte sich in einen weißen Buckel verwandelt.
Eine plötzliche Bö peitschte Lena ins Gesicht, sodass sie zusammenzuckte und blinzelte, als ihr Tränen in die Augen traten. Sie wollte sie wegwischen, aber durch die Plastikhandschellen an ihren Handgelenken waren ihre Finger gefühllos geworden, trotz der Handschuhe. Als der Wachmann ihr die kabelbinderartigen Fesseln anlegte, hatte sie versucht, die Muskeln anzuspannen, aber dafür eine ziemlich schmerzhafte Ohrfeige kassiert.
»Lass den Quatsch, Mädel«, sagte der Mann und wickelte eine Kette um ihre Hüfte, die er an einen dicken Metallring schloss. »Seth mag alt sein, aber Seth ist nicht dumm.«
»Nein, Seth ist bloß ein Arschloch, das nicht in der ersten Person sprechen kann«, gab sie zurück, aber es klang matt, und sie gab nur ein Stöhnen von sich, als Seth die Handschellen so festzog, dass das Geräusch des Zuzurrens wie eine Holzsäge klang.
Jetzt richtete sie sich auf und unterdrückte mit zusammengebissenen Zähnen den Schmerz des in die Haut einschneidenden Kunststoffs. Ihre Handgelenke fühlten sich feucht an. Blut . Auch das noch. Sie senkte den Kopf und rieb sich die brennenden Augen an ihrer Schulter.
»Alles okay?«, fragte Chris. Er saß zu ihrer Rechten, Kopf, Brust und Schultern mit Schnee bestäubt.
»Nein, ich spüre meine Hände nicht mehr. Die Handschellen sind zu eng.«
»Ja, meine auch. Dauert aber bestimmt nicht mehr lang.«
»Weißt du, wohin sie uns bringen?« Kaum hatten sie Jess’ Gasse verlassen, war ihr klar geworden, dass sie nicht Richtung Stadt, sondern nach Osten fuhren.
»Ins Folterhaus«, erwiderte Kincaid anstelle von Chris. Als er den Kopf zu ihr drehte, rutschte ein Schneehäufchen von der Krempe seines Stetson und fiel ihm in den Schoß.
» Was? «
»Na ja, sie nennen es zwar Befragungszentrum, aber … doch, doch.« Kincaid schwankte, als der Karren in den Fahrspuren hin und her gerüttelt wurde. »Manchmal sind die Jungs ein bisschen übereifrig . Dann werde ich gerufen und muss die Betreffenden wieder zusammenflicken, damit sie von Neuem anfangen können.«
»Folter?« Ihre Stimme klang plötzlich dünn und piepsig. »Sie meinen, die wollen uns … « Sie fuhr zu Chris herum. »Hast du davon gewusst?«
Trotz des schlechten Lichts sah sie ihm sein Zögern an. »Na ja, ich … «
»O mein Gott, du hast es gewusst.« All ihr Wagemut hatte sich auf einmal in Luft aufgelöst, und wieder einmal fragte sie sich, was zum Teufel sie sich eigentlich gedacht hatte. Sie mochte Alex doch nicht mal besonders. Und wenn Chris wusste, dass hier Menschen gefoltert wurden, warum tat er dann nichts dagegen?
»Sie wollen dir nur Angst einjagen«, versicherte Chris ihr. »Dir passiert nichts, das verspreche ich dir.«
»So etwas kannst du nicht versprechen, Chris. Außerdem glaube ich, dass sie ja durchaus Informationen hat.« Kincaid schaute Lena an. »Hab ich recht?«
»Mit Ihnen rede ich nicht«, erwiderte sie. »Sie sind doch einer von denen .«
»Oh, na klar. Schön, dass du mich daran erinnerst, dass ich einer von den Bösewichten bin. Die Handschellen trage ich ja nur zum Spaß.«
»Wie können Sie jetzt Witze machen?« Ihr wurde wieder schlecht, und sie musste dringend pinkeln.
»Hab ich das? Ist mir gar nicht aufgefallen.« Kincaid schwieg einen Moment, dann schlug er einen anderen Ton an. »Du kommst aus der Gegend von Oren.«
»Na und? Ist doch kein Verbrechen«, entgegnete sie und dachte sich dann: Verdammt, ich höre mich aber so an, als wäre es eins.
»Du schuldest ihm keine Erklärungen, Lena«, mischte Chris sich ein.
»Ich kann für mich selbst sprechen.«
»Ich hab ja nur gemeint … «
»Mannomann«, meinte Kincaid. »Wenn ihr zwei euch so anstellt, seid ihr in null Komma nichts geliefert. Gerade du, Chris, solltest das doch wissen.«
»Höre ich da eine Frage heraus?«, erwiderte Chris.
»Tja, was denkst du wohl?« Als Chris schwieg, fuhr Kincaid fort: »Chris, es geht um das, was auch dein Großvater wissen wollte: Woher weißt du immer, wo du nach diesen Kindern suchen musst?«
Wieder Schweigen. Lena spürte, dass Chris sich verschloss, eine Mauer um sich hochzog. Ein Folterhaus, und Chris wusste davon …
»Da muss
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