Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
ein ordentliches Haus, da gibt es bestimmt auch irgendwo eine Hausapotheke.
»Ooouh.« Sharon fuhr mit der Zunge über ihre Zahnruinen. »Das sieht echt übel aus. Weißt du was, lass es doch verfaulen. Dann geht’s dir wie Brian, und sie bringen dich nur um.«
Was für ein Trost. Alex wünschte, ihr würde eine schlagfertige Antwort einfallen, aber vor Hunger krampfte sich ihr Magen zusammen, und in ihrem Geist herrschte öde Leere. Also erwiderte sie nur: »Zur Hölle mit dir.«
»Da bin ich schon.« Allerdings schien Sharons Fundus an Lebensweisheiten langsam erschöpft zu sein, denn sie wandte sich von Alex ab und Ruby zu. »Wisst ihr, was ich denke?«, verkündete sie zuversichtlich. »Was der Grund ist, warum diese kleinen Monster in den letzten Tagen niemanden mehr mitgebracht haben? Weil keiner mehr auf sie wartet, was bedeutet, dass die anderen sich nicht mehr an das Abkommen halten.«
»Entweder das, oder es gibt keinen mehr, den sie rausschicken können«, meinte Ray.
»Wovon sprecht ihr?« Weil keiner mehr auf sie wartet? So hatte Alex sie noch nie reden hören, und beinahe gegen ihren Willen wurde ihre Neugier geweckt. Zwar teilten sie ihr Essen miteinander, aber eigentlich wusste Alex kaum etwas über die anderen. Verständlich: Niemand wollte sich allzu sehr mit jemandem anfreunden, wenn man später mitansehen musste, wie der Betreffende zu Hackfleisch verarbeitet wurde. »Was für ein Abkommen? Was soll das heißen, es gibt keinen mehr, den sie rausschicken können?«
»Na, das weißt du doch.« Verdutzt schaute Ray zu Ruby, dann wieder zu Alex. »Rausgeschickt, so wie du auch. So wie wir alle losgeschickt worden sind.«
»Ich bin weggerannt. Geflohen. Mich hat keiner geschickt«, entgegnete Alex, aber bei genauerer Überlegung wurde ihr klar, dass man ihr sehr wohl gesagt hatte, wohin sie gehen sollte – und Jess’ Flinte hatte für entsprechenden Nachdruck gesorgt. Nun bekamen auch die Worte, die Ray und die anderen benutzt hatten, einen Sinn. »Geschickt … ihr meint, man hat euch hinausgeworfen? Absichtlich? Warum? Habt ihr was falsch gemacht?« Das schien ihr die wahrscheinlichste Erklärung. Rule war wohl nicht der einzige Ort, der Übeltäter verbannte.
»Natürlich nicht.« Sharon klang ehrlich entrüstet. »Wir haben nur den Kürzeren gezogen, sonst nichts.«
»Den Kürzeren … « Alex verschlug es den Atem. »Ihr habt gelost ?«
»Genau«, antwortete Ray achselzuckend. »Aber natürlich kann jedes Dorf oder jede Gemeinschaft selbst entscheiden, wie sie das handhaben will.«
»Doch du hättest bleiben können«, sagte Ruby leise zu Ray. »Du hättest nicht mitgehen sollen.«
Rays Kiefer mahlten. »Du bist meine Frau. Wo du hingehst, gehe auch ich hin.«
»Keiner von euch hätte irgendwas tun müssen!« Aus den Augenwinkeln sah Alex, wie Pickel den Kopf nach ihnen umdrehte, aber sie war so entsetzt über das, was Ray sagte – was im Grunde alle sagten – , dass sie sich nicht darum scherte.
»Natürlich mussten wir. Es ist zum Wohl der Allgemeinheit«, erklärte Ruby.
»Ihr habt euch zu lang mit Sharon abgegeben«, meinte Alex.
»Pass auf, was du sagst«, warnte Sharon sie.
Alex ging darüber hinweg. »Wem nützt es denn, wenn ihr sterbt? Wenn ihr freiwillig eure Dörfer verlasst, um gefressen zu werden? Warum spielt ihr überhaupt bei so etwas mit? Warum lasst ihr euch darauf ein?«
»Du bist doch aus Rule.« Sharons Stimme klang plötzlich dumpf und bebte vor Zorn. »Du kommst aus diesem verdammten Kaff und schwingst hier noch große Reden? Ihr habt doch als Erste damit angefangen … « Sie hielt inne, als sie Alex’ Gesichtsausdruck sah. »Was ist?«
»Ich … « In ihrer Verwirrung – abgelenkt durch den plötzlichen massiven Ansturm von Gerüchen – hätte Alex fast etwas Dummes gesagt und sich verplappert. Aber da fuhr Pickel bereits so abrupt hoch, dass auch die anderen merkten, dass etwas faul war.
»Was ist?«, wiederholte Sharon, als Pickel auf die Gefangenen zukam und die Mündung seines Gewehrs auf sie richtete. Sie schaute Ray und Ruby an. »Himmel, vielleicht haben sie wieder einen.«
»Hoffentlich«, meinte Ray. »Ich brauche was zu essen.«
So funktioniert es also . Alex schwirrte noch der Kopf, während Pickel sie und die anderen mit vorgehaltener Waffe zur Tür scheuchte. Das hat Ruby am ersten Tag mit dem »Teilen« gemeint. Jeder, der »rausgeschickt« wird, bringt auch etwas zu essen mit. Nicht viel, aber genug, dass sich die Veränderten
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