Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
verlorenen Söhne aber auch schon heimgekehrt. Also, Peter, was denkst du, was passieren wird?«
Der Rat würde niemals untergehen und Chris einen Ausweg finden. Diese Worte lagen ihm schon auf der Zunge. Aber Chris ist mir in meinen Visionen erschienen. Vergiss die Droge. Irgendwas ist ihm zugestoßen, und in Rule ist etwas passiert, ich weiß es. Allein schon, weil Finn allzu siegesgewiss ist. Der Schmerz – die Vorstellung, Chris könnte wirklich tot sein – bohrte sich wie ein Stachel in sein Herz. Doch er klammerte sich daran fest, zog diesen Stachel näher heran, grub ihn noch tiefer, denn er wollte den Schmerz, sehnte sich nach der Qual. Wenn ich noch weiß, was Kummer ist, habe ich eine Chance, ich selbst zu bleiben.
»Warum hassen Sie Rule so sehr?«, fragte Peter. »Wer sind Sie, Finn?«
»Ich bin, was ich bin.« Finn breitete die Arme aus. »Und ich bin der Weg, Junge.«
Nein, du bist nur der einzige Weg, den es noch gibt. Er schloss die Augen, aber nicht so sehr wegen Finn, sondern wegen der plötzlichen eisigen Kälte, die durch seine Adern strömte. In seinem Hirn krallte sich das geflügelte Wesen noch ein bisschen fester. Beinahe wünschte er sich die Glocken zurück. Oder Simon. Dann wäre er einfach nur verrückt und hätte eine Ausrede.
»Gut.« Er öffnete die Augen wieder. »Aber ich will dabei sein. Geben Sie mir Ihr Wort darauf.«
»Großes Indianerehrenwort. Na, was meinst du, sollen wir dich langsam mal reinbringen, ehe du dir noch einen Fuß abfrierst?« Finn blinzelte ihm zu. »Oder am Ende ein anderes wichtiges Körperteil, das ein junger Kerl wie du nur ungern einbüßt? Ach, Moment mal.« Finn schlug sich in einer übertriebenen Geste an die Stirn. »Wir haben ja Lang ganz vergessen. Willst du ihn immer noch haben?«
»Ja.« Peter spürte, wie sich das Flügelding regte. »Sie kennen doch den Spruch: Rache genießt man am besten kalt.«
»Nein!« Lang streckte Finn die Hände entgegen wie ein flennendes Kleinkind. »Nicht, Boss, ich bin doch Ihr Mann!«
»Wo du herkommst, gibt es noch eine Menge anderer alter Säcke.« Man hörte das Schaben von scharfem Stahl auf Leder, als Finn sein Parang aus der Scheide zog. »Hat jemand Hunger?«
Teil IV
DURCH FEUER UND EIS
55
»Bildest du dir etwa ein, du kannst mich verlassen?« Das Brüllen seines Vaters drang wie durch ein Megafon aus der Küche im Erdgeschoss zu ihm herauf. Metall krachte auf Holz, Geschirr klapperte, und dann folgte ein gedämpfter Aufschrei von Deirdre, Vaters damaliger Freundin. »Denkst du, ich habe keine Augen im Kopf?«, tobte sein Vater.
Ich höre das nicht. Chris hatte seine Decke über den Kopf gezogenen, lag zitternd im Dunkeln und kniff die Augen zu, ganz fest, noch fester! Er presste die Hände auf die Ohren. Das ist nur ein böser Traum …
Aber dann kauerte er plötzlich auf der Treppe. Unten sah er seinen Vater stehen, dessen Gesicht und Muskelshirt mit hellroten Blutspritzern übersät waren. An seinem Hammer klebte eine Masse aus blondem Haar, Hirn und Blut.
»N-n-nicht«, stammelte Deirdre – doch wie Chris jetzt feststellte, war es gar nicht Deirdre, sondern Lena. Ihr Gesicht war ein zermatschtes, unförmiges Schreckensbild, die linke Hälfte ihres Schädels war zertrümmert. Ein glänzender Fetzen rosafarbenes Hirn glitschte ihren Hals hinab. »B-bitte.« Lena streckte die Hände aus, doch es war nicht Chris’ Vater, den sie anflehte.
Sondern ihn. Denn jetzt war Chris nicht mehr acht Jahre alt. Und weder lag er im Bett noch kauerte er mit angezogenen Knien auf der Treppe und wünschte sich ganz weit weg. Nein, er stand da, umtost von eisigem Wind und den stechenden Nadeln eines Schneetreibens, und diesmal war die Hand mit dem Hammer die seine. Er wog das Werkzeug, spürte dessen Gewicht und Lenas klebriges Blut am Griff. Etwas Nasses lief ihm übers Gesicht und den Hals hinab. Auf seinen Lippen lag ein feuchtwarmer, kupferartiger Geschmack. Es war das Beste, was er je gekostet hatte, und er wollte mehr davon.
»B-bitte, Chris«, sagte Lena. »H-hilf mir.«
»Ich kann dir nicht helfen.« Seine Stimme klang älter und rauer. Auch das gefiel ihm. »Das kann niemand.«
»A-aber …« Aus Lenas Augen rannen Blutstropfen anstelle von Tränen. »Ich will nicht sterben.«
»Daran hättest du denken sollen, bevor du dich verändert hast. Jemand muss sterben.«
»Ja, jemand muss sterben.« Eine andere Stimme, und Chris wohlbekannt: Urplötzlich tauchte Jess auf, ihr silbernes Haar kringelte
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