Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
Simon war damals also sechzehn. Isaac Hunter hatte gesagt, Penny sei ein Jahr jünger als Simon. »Dann erzähl mir die Kurzfassung. Bist du in Rule aufgewachsen oder gehörst du zu den Amish oder …«
»Früher, ja. Ich bin schon vor Jahren hier weggegangen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mehr. Schule, eine Ausbildung nicht nur bis zur achten Klasse. Peter und ich haben uns in Houghton kennengelernt, als ich im ersten Semester an der Michigan Tech war, Peter war schon im siebten.«
»Peter ist aufs College gegangen?« Chris blinzelte überrascht. »Ich habe immer gedacht, er wäre gleich nach der Highschool Hilfssheriff geworden.«
»Wohl kaum. Er war Lehrassistent in meinem Einführungsseminar in vergleichender Zoologie, hat sich um das Labor gekümmert. Netter Junge.« Um ihre Lippen spielte ein beinahe wehmütiges Lächeln. »Ein ziemlich starker, energischer Typ, der zu allem eine Meinung hatte. Es gab da ein Café ein, zwei Blocks flussaufwärts – das Cyberia. Peter hat uns ein paar Mal nach der Laborarbeit dorthin eingeladen. Wir haben uns Kaffee geholt und uns vor die Bibliothek am Keweenaw Waterway gesetzt.«
Keweenaw. Vage meinte er sich zu erinnern, dass der Kanal irgendwo im Nordosten lag. »Ich bin kaum aus Merton rausgekommen, bevor es mich nach Rule verschlagen hat.«
»Ach, am Keweenaw ist es richtig schön. Es gibt eine Brücke zwischen Houghton und Hancock, einer ganz kleinen Stadt auf Copper Island hinter dem Kanal. Nach Hancock kommt bis zum Lake Superior praktisch nichts mehr außer Farmen und Golfplätze, und dann an der äußersten Spitze Copper Harbor. Manchmal denke ich daran und wie es wäre, sich dort niederzulassen.« Ihr Blick wurde verträumt. »Die Universitätsbibliothek plündern, dann irgendwo hinter Hancock eine hübsche, abgelegene Farm finden. Angeln, den Acker bestellen, lesen. Das wäre schön.«
Das hörte sich so an, als könnte es ihm auch gefallen. »Vielleicht solltest du den Traum wahr machen.«
»Tja, allein kann ich es nicht durchziehen, und außerdem muss man auch erst mal hinkommen. Ach, und ich hoffe, dass sich die Menschenfresser bis dahin aus der Stadt verzogen haben.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Jedenfalls hat Peter sein Studium geliebt. Sein großes Projekt war die Isle Royale. Wir haben immer wieder diskutiert, was man wegen der Wölfe unternehmen sollte.«
»Wölfe? Isle Royale?« Ihm kam es vor, als würde jemand eine Gutenachtgeschichte in einer fremden Sprache erzählen. »Wo ist das denn?«
»Im Lake Superior. Es ist ein Nationalpark, aber da kommt kaum jemand hin. Ziemlich schwer zu erreichen. Da wird doch diese Fünfzigjahresstudie über die Wolfs- und Elchpopulation gemacht.«
»Ach ja?« Er kam sich unglaublich beschränkt vor. »Warum?«
Sie sah ihn prüfend an. »Isle Royale ist eine Insel, aber dort leben Wölfe und Elche. Wie sind sie wohl dorthin gekommen?«
»Geschwommen?«
»Nur die Elche. Wölfe können nicht so weit schwimmen. Die führenden Wissenschaftler waren alle in Houghton an der Michigan Tech. Sie vermuten, die Wölfe wären vor langer Zeit über Eisbrücken hingekommen, aber wegen der Klimaveränderung hat es seit Mitte der Achtziger keine stabile Brücke mehr gegeben. Also waren die Wölfe isoliert. Ihre Population ist in den letzten zehn Jahren zusammengebrochen. Bevor auf der Welt die Lichter ausgingen, gab es noch neun Wölfe. Darunter nur zwei Weibchen. Also wurde lang und breit erörtert, wie und ob man sie retten sollte. Den Sommer über hat Peter Feldforschung betrieben. Er hat Wölfe betäubt, Stichproben genommen, den Tieren Halsbänder angelegt, Elchkadaver untersucht. Dafür hat er sich leidenschaftlich engagiert, weil er dachte, es sei unsere Schuld, schließlich haben wir die Umwelt ruiniert. Ich glaube, wenn er gewusst hätte, wie man Wölfe auf die Insel schmuggeln kann, hätte er es getan. Bewundernswert.«
»Vermutlich.« An Chris nagte ein unterschwelliger Neid. Unter anderen Umständen hätte auch er, Chris, Seminare besuchen und beim Kaffee über ethische Fragen diskutieren können. »Was hat das alles mit Penny zu tun?«
»Es hängt mit einer Sache zusammen, die Peter gründlich verbockt hat. Die Insel ist weit abgelegen. Entweder man nimmt die Fähre, das dauert fünf bis sieben Stunden, oder man fliegt mit dem Wasserflugzeug hin oder fährt mit dem eigenen Boot. Peter hatte da ein tolles altes Boot, das er selbst mit einem Glasfaserrumpf aufgemotzt hat. Es war wie
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