Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
Schwung.
Ja, aber jetzt bloß nicht euphorisch werden, Schatz. Mit dem Schokoriegel hatte sich ihre Glückssträhne womöglich schon erschöpft. Eine Angelausrüstung entdeckte sie nicht, und ihre Nase erschnupperte nichts außer dem seltsamen Lagerfeueraroma und dem Krankenhausgeruch. Wo kam das her? Hier gab es nichts weiter, nur die Kommode und ein weiteres Bücherregal aus durchhängenden Kanthölzern, die auf Betonziegeln lagen, voll mit Taschenbüchern und Hardcovern. Eine Menge Romane, die sie entweder schon gelesen hatte oder lesen wollte, aber nicht dazu gekommen war: Tolkien, Asimov, Bradbury, Matheson. Eine zerlesene, mit Tesa geklebte Ausgabe von Die letzte Generation. Herr der Fliegen. Und Der Wüstenplanet, ein Buch, das sie während der Chemo gelesen hatte, als das Mantra über Angst als Seelentöter wahr wurde, während sie mit ansah, wie das gelbe Gift in ihre Adern tropfte. Auch eine schöne Stephen-King-Sammlung: Dead Zone – das Attentat. Desperation und The Stand – das letzte Gefecht. Wahn. Die Zeitfalte . Spiralnebel 101 fiel schon auseinander, und der Buchrücken von Unten am Fluss war so abgegriffen, dass man den Titel kaum noch lesen konnte.
Es gab aber auch eine Menge neuerer Lehrbücher. Biologie des Wolfes. Artenbildung der Säugetiere. Rudelführer: Die Wölfe auf Isle Royale, Michigan. Eine größere Anzahl von Titeln über Bevölkerungsgenetik und Evolution. Ein Drittel des Regals war der Zeitgeschichte vorbehalten: Wo der Büffel umherstreift: Roosevelt und die bedrängte Wildnis. Als Dunkelheit herrschte: Der Zusammenbruch der Zivilisation im Mittelalter.
»Wow«, murmelte sie. Ein eifriger Leser, noch dazu Geschichtsexperte und ein Fachmann für Säugetiere – das hatte sie ganz und gar nicht erwartet. Andererseits war Peter ein pragmatischer, zupackender Typ, der sich offenbar um die Aufteilung von Ressourcen Gedanken gemacht hatte. Jemand, der erkannt hatte, dass die Fütterung der Veränderten verschiedene Vorteile brachte, zum Beispiel einen bequemen Puffer zwischen Rule und dem Rest der Welt. Irgendwie passte es dazu, dass er sich mit dem finsteren Mittelalter beschäftigt hatte.
Sie hätte nichts dagegen, hier eine Weile abzuhängen. Die letzte Generation sah richtig verlockend aus. Ebenso wie sämtliche Stephen-King-Bände. Die Zeitfalte noch mal zu lesen, wäre wie ein Treffen mit einer alten Freundin. Chris würde das hier auch gefallen. Ein Junge, der den ganzen Bestand eines Bücherbusses einpackte und mitnahm, wäre bestimmt ganz scharf auf all diese Schätze. Wenn sie heil hier rauskam, sollte sie ihn herbringen.
Nichts überstürzen. Sie musste praktisch vorgehen. Träumen kannst du immer noch, aber erst kommt das Essen.
Sie durchsuchte jede einzelne Jacke, drehte die Taschen nach außen, fand aber bloß in einer Jeansjacke ein paar zerknitterte Dollarscheine, die sie in ihre Parkatasche stopfte. Als Zunder taugten sie immer noch. Als sie die Jacke zurückhängte, hielt sie inne. Das Kleidungsstück war ziemlich groß, und überhaupt erweckte das Bootshaus den Eindruck, dass hier noch ein anderer, älterer Junge gehaust hatte. Das Aroma war wie intensives Wintergrün und frostiges Eisen. In Rule hatte sie nie besonders darauf geachtet, aber wenn sie jetzt tief einatmete, fragte sie sich, wie so starke Gerüche sich so verschleiern konnten.
War das Haus vielleicht ein Geschenk gewesen? Die Schokolade des Almond-Joy-Riegels war weg, auf ihrer Zunge klebten Kokosraspeln. Sie saugte die Mandel aus ihrer Backentasche, kaute, überlegte. Jetzt war ihre Neugier angestachelt, was besser war, als sich nur auf das nagende Gefühl in ihrem Magen zu konzentrieren. Oder war das einfach ein altes Familienferienhaus, in das sich Peter zurückzog, wenn er in Ruhe nachdenken wollte? Das klang überzeugender. Gestern, als sie durch den Wald streifte und ihre Fallen legte, hatte sie an einer alten Eiche hinter dem Anwesen in zehn Metern Höhe auch ein verwittertes Baumhaus entdeckt. In Anbetracht der unfertigen Veranda hatte Peter hier offenbar fleißig gearbeitet. Das Haus war zudem unlängst winterfest gemacht worden, mit doppelt verglasten Fenstern, die noch nach Kitt und Dichtungsmasse stanken. Hinter der Trockenwand im Erdgeschoss roch sie frisches Isoliermaterial, und der Anstrich war auch frisch. Im Wohnraum bullerte ein Holzofen, der noch den neuen Geruch von heißem Gusseisen verbreitete. (Ein Glück, denn sonst gab es nur zwei offene Kamine, einer oben, einer unten,
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