Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
gigantischen Strom aus Schnee und Bäumen und Felsen den Berg hinunterschickte, konnte ohne Weiteres einen Menschen in Stücke zerfetzen, Knochen wie dürre Äste brechen und mal da, mal dort ein Bein, einen Arm zurücklassen.
Breitbeinig kniete er sich dort hin, wo er ihren Körper vermutete, und trieb seine Fäuste wie Presslufthämmer in den Schnee. Das KA - BAR benutzte er lieber nicht. Was, wenn er sie verletzte, sie damit schnitt? Der Schnee brach in Brocken auseinander, die sich durch den Druck und die Wucht der Lawine gebildet hatten, aber auch durch Eigengewicht. Auf Felsstücke stieß er hier ebenfalls, legte sie frei, hievte sie beiseite. Er konnte nicht aufhören, würde nicht aufhören, aber bei Gott, er wollte es. Er wusste, er sollte es sein lassen.
Ich muss es wissen, ich will es nicht wissen … Sie kann es nicht sein, weil wenn doch, ist für mich alles vorbei.
Aber er musste nachsehen, brauchte Gewissheit. Er grub, wuchtete Schneebrocken beiseite, hob das Grab aus Eis und Steinen aus. Vage ließ sich die Rundung ihrer Hüften erahnen, und dann der Umriss ihres Oberkörpers, eingebettet in eine gefrorene Blase: ein moosgrüner Parka, gefüllt mit Schnee, wölbte sich an ihren Seiten. Er wischte nur kurz darüber und machte weiter. Später, ja später würde er sie ganz befreien, aber jetzt musste er sie sehen, ihr Gesicht finden, ihr Gesicht, ihr Gesicht … Er pflügte sich durch den Schnee, arbeitete sich grabend, brechend, kratzend erst zu den Schultern vor, dann zum Hals und schrie dabei wie verrückt: »Alex Alex Alex Alex Alex? «
Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, trennte sie beide nur noch eine dünne Schicht aus Eis und Schnee voneinander. Und da hielt er inne.
Ich will das nicht sehen. Er bebte. Von seinen geschundenen Händen tröpfelte Blut auf den Schnee, und die kleinen Spritzer sahen aus wie Zuckerstreusel. Er hatte schon Kameraden so gesehen, in meterlange Bandagen gewickelt, wie anonyme, unförmige Mumien. Das Gesicht zu suchen, war immer am schlimmsten. Manchmal half es, dem Blut zu folgen. Riesige rostfarbene Flecken weichten den Mull ein, markierten etwas, das nicht da war. Aber wirklich, wirklich schreckliche Momente waren die, wenn er auf etwas blickte, was nicht mehr da war: keine Nasenspitze, keine Stirnfläche, nicht einmal mehr Höhlen, wo die Augen gewesen waren. Dieses Nichts war am allerschlimmsten.
So war es auch jetzt – als stünde Tom vor einem mit Satin ausgekleideten Sarg und sähe auf eine Leiche hinab, die so entstellt, so völlig verwüstet war, dass der Bestatter ihr als letzten Akt der Güte einen Schleier übers Gesicht gelegt hatte.
Bitte Gott, mach, dass sie das nicht ist. Auch wenn ich die Gewissheit brauche, aber ich würde es nicht verkraften.
»O Alex«, sagte er und wischte ihr so vorsichtig wie möglich den Schleier aus Eis vom Gesicht.
Fünf Sekunden später fing er an zu schreien.
25
»Aahh!« Schreiend ruderte Ellie mit den Armen wie Karl der Kojote, der gerade bemerkt hatte, dass er über den Abgrund gelaufen war. Ihr Gewehr polterte auf den Boden. Mina jaulte, als Ellie von den Knien auf den Hintern kippte. Hektisch krabbelte sie rückwärts. Ihr Mund stand offen, die Augen traten ihr aus den Höhlen, und sie spürte, wie sich der nächste Schrei seinen Weg nach oben bahnte.
Das war’s, nichts wie raus hier! Die Krähen, dieser gruslige Raum voller toter Leute, ein Sack, der sich bewegte … Vielleicht war eine Maus, eine Ratte oder sonst was da drin und fraß die Augen oder die Zunge der Leiche …
Aber da sind keine Mäuseköttel, sagte eine leise, vernünftigere Stimme irgendwo weit hinten in ihrem Kopf. Da sind keine Löcher im Sack.
»D-dann eben nur ein sehr k-kleines Loch«, stotterte sie.
Es ist kalt, fuhr die Stimme geduldig fort. Die Leichen sind gefroren, verstehst du? Sie verwesen nicht. Sie riechen nicht.
»Ja, aber warum sind dann die Krähen da?« Sie diskutierte mit sich selbst, wie blöd war das denn? Aber ihre eigene Stimme zu hören gab ihr ein gutes Gefühl, so als habe sie die Situation mehr unter Kontrolle. »Weil sie vielleicht doch nicht gefroren sind, oder?«
Das könnte sein. Aber Krähen können noch etwas anderes bedeuten, gab die Stimme zu bedenken.
»Und was?« Ellie runzelte die Stirn. Wie konnten Krähen mehr sein, als sie waren? Sie wollte gerade die Stimme fragen, von was zum Kuckuck sie da sprach, aber dann fiel ihr ein: Du Dummkopf, du redest mit dir selber. Also, was denkst du
Weitere Kostenlose Bücher